Berlin. .

Ist die Finanzkrise überwunden? Wer im Jahr sechs nach Ausbruch der Krise auf dem amerikanischen Häusermarkt einen flüchtigen Blick auf die Börsen wirft, muss das fast vermuten. Der US-Leitindex Dow Jones klettert auf ein historisches Rekordhoch. Die Börse in Tokio meldet die höchsten Kurse seit mehr als vier Jahren. Und auch in Deutschland sind die Anleger in geradezu euphorischer Kauflaune.

Der Dax setzt zum großen Sprung nach vorn an und dürfte schon bald die Marke von 8000 Punkten knacken – zum ersten Mal seit Ausbruch der Finanzkrise. Im Juli 2007 hatte der Dax mit 8151 Zählern seinen bisherigen Rekord aufgestellt. „Der Anstieg des Dax auf ein Rekordhoch ist nur eine Frage des ‘wann’ und nicht des ‘ob’“, sagt Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremer Landesbank, und fasst damit die Mehrheitsmeinung der Marktbeobachter zusammen.

Keim für den nächsten Crash

Hat sich die Finanzkrise also erledigt? Natürlich nicht. Denn es bleibt die Frage im Raum, ob sich nicht gerade wieder eine neue Blase aufbaut, die schon den Keim für den nächsten Crash in sich trägt. Der Höhenflug der Aktienkurse kontrastiert jedenfalls auffällig mit der zähen Erholung der Weltkonjunktur und der Dauerkrise in Europa.

Es klingt paradox: Aber größter Kurstreiber an den Börsen ist derzeit die Krise selbst. Genauer gesagt: die Krisenpolitik der Notenbanken.

Geldschwemme

Die Geldschwemme von US-Fed, Europäischer Zentralbank (EZB) und anderen großen Notenbanken wie der Bank of Japan (BoJ) kann als wichtigster Grund für die aktuelle Aktienhausse identifiziert werden. Denn die Investoren wissen kaum mehr wohin mit ihrem Geld; niedrig verzinste Staatsanleihen und ähnliche Anlagen sind extrem unattraktiv, weil sie nicht einmal mehr die Inflationsrate ausgleichen. Das Geld fließt deshalb vermehrt in Aktien und Immobilien, der Risikoappetit der Anleger steigt. Das lässt sich auch am sinkenden Goldpreis ablesen. Damit steigt aber zugleich auch das Risiko für eine Vermögenspreisblase. Anziehende Immobilienpreise und Aktienkurse geben Hinweise auf eine mögliche Überhitzung.

Das Dauer-Doping der Notenbanken könnte, so argwöhnen Skeptiker, eines Tages erneut in einer schweren Depression münden. Spätestens dann, wenn der Geldhahn wieder zugedreht wird.

Doch damit ist einstweilen nicht zu rechnen. Fed-Chef Ben Bernanke will die Märkte so lange mit Geld fluten, bis die Arbeitslosigkeit in den USA deutlich zurückgeht.

Von der EZB erwartet man Ähnliches. Solange Spanien, Griechenland, Portugal und Italien in der Rezession stecken, werden die Währungshüter die Zinsen nicht anheben. Zumal die Inflationsrate niedrig ist. Eine Zinserhöhung würde die Rezession in den Krisenländern noch verschärfen und womöglich eine Deflation auslösen. Insofern tat EZB-Präsident Mario Draghi gestern das, was von ihm erwartet wurde. Er beließ den Leitzins unverändert auf einem historischen Tiefststand von 0,75 Prozent und hielt sich damit Pulver für weitere Zinssenkungen trocken.

Dennoch: Kritiker fürchten, dass die EZB ihr Mandat überzieht und sich die Politik des billigen Geldes eines Tages böse rächen wird.

Das Horrorszenario kommt einem bekannt vor: Eine Geldschwemme der US-Notenbank unter Alan Greenspan war schließlich einer der wichtigsten Auslöser der letzten Krise.

Optimistische Anleger

Doch solange die Musik spielt, muss an den Börsen getanzt werden. Sind die optimistischen Anleger mithin nichts anders als gierige, irrationale Herdentiere, die die Welt in den nächsten Abgrund treiben? Vielleicht. Auf der anderen Seite aber weisen Aktien-Experten auch auf handfeste, „fundamentale“ Gründe für die aktuelle Hausse hin. So sind die Unternehmensgewinne in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Dies- und jenseits des Atlantiks.

Allein die 100 größten deutschen Konzerne schütten 33 Milliarden Euro Dividenden an ihre Aktionäre aus. Das treibt die Kurse. Analysten betonen, dass die Unternehmen an der Börse solide bewertet sind. Berücksichtigt man Dividendenzahlungen und höhere Buchwerte der Konzerne, ist bei den Kursen sogar noch reichlich Luft nach oben.

Die Luft wird dünner

Aber: Mit jedem neuen Dax-Rekord wird die Luft dünner. Schnelle, abrupte Stimmungsumschwünge gehören seit der Finanzkrise zur DNA der Börsen. Morgen schon können Anleger wieder schlechte Laune bekommen - wenn sie ihre Aufmerksamkeit zum Beispiel auf die hohen Staatsschulden in Europa, die Regierungsbildung in Italien oder den Haushaltsstreit in den USA richten. Es ist wohl diese Unberechenbarkeit, die Privatanleger in Deutschland bislang von den Börsen fernhält.