Essen. Bei Autofahrern mag es sich an der Tankstelle anders anfühlen. Aber für die Benzinrechnung müssen Arbeitnehmer heute nicht länger arbeiten als früher. Lohnzuwachs und Verbrauchsminderung gleichen die Preissteigerung aus – noch.
Der Benzinpreis eilt von einem Rekordhoch zum nächsten. Bei aller Empörung darüber wird aber nicht weniger gefahren, sondern im Gegenteil: mehr. Ein Grund für die relative Gelassenheit der deutschen Autofahrer: Dank der gestiegenen Kaufkraft bei gleichzeitig gesunkenem Verbrauch der Pkw hat sich der Arbeitsaufwand für die Tankrechnung in den letzten Jahrzehnten gar nicht erhöht. Je nach Betrachtungsweise sind Benzin und Diesel sogar leichter erschwinglich als früher.
Im historischen Vergleich ist Kraftstoff heutzutage geradezu ein Schnäppchen. 1960 musste ein Normalverdiener (gemessen am Nettoverdienst) noch 14 Minuten schaffen, um einen Liter Normalbenzin für umgerechnet 31 Cent tanken zu können. 2011 konnte der Arbeitnehmer nach nur sechs Minuten zum Abzapfen fahren. Das hat das Institut der deutschen Wirtschaft errechnet.
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Dieser Vergleich der sogenannten Lohnminuten bis zum Erarbeiten eines Liters aus der Zapfsäule wird entsprechend gerne von der Mineralölindustrie herangezogen, um zu beweisen: Ist doch alles nicht so schlimm. Dabei wird unterschlagen, dass die meisten Dinge des täglichen Bedarfs in Lohnminuten gerechnet um ein Mehrfaches erschwinglicher geworden sind als eben Benzin.
Autos und Benzin kosten viermal so viel wie 1974
Dem entgegengehalten werden muss, dass – im Gegensatz zu Grundnahrungsmitteln etwa – der Verbrauch beim Benzin sehr stark zurückgegangen ist. Lag der durchschnittliche Bedarf eines Neuwagens mit Benzinmotor 1980 nach Normverbrauch noch bei über zehn Litern auf 100 Kilometer, so sind es jetzt unter 6,5 Liter – ein Minus von einem Drittel.
Im Vergleich mit den Neuwagenpreisen ist Benzin auch nicht teurer geworden. Der Golf hat sich von 1974 (4000 Euro) bis heute (17 000 Euro) im Preis gut vervierfacht, genauso wie der Liter Benzin von 42 Cent auf das bisherige Spitzenniveau von 2012 in Höhe von 1,70 Euro für Super bleifrei.
Alles nicht so schlimm also? Anders sieht die Entwicklung jedoch aus, wenn zum Vergleich nur die letzten zwei Jahrzehnte herangezogen werden. Der Benzinpreis stieg in diesem Zeitraum um fast 150 Prozent, die Nettolöhne dagegen nur um knapp 50 Prozent. Dementsprechend musste 2011 ein Durchschnittsverdiener gegenüber 1991 sechs statt vier Minuten arbeiten, um mit seinem Nettoverdienst einen Liter Benzin bezahlen zu können.
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Wer täglich zur Arbeit hin und zurück insgesamt 30 Kilometer mit einem durchschnittlich sparsamen, benzinbetriebenen Auto fährt, arbeitet die ersten 20 Minuten des Tages nur dafür, die Spritrechnung für den Weg zum Job zu begleichen – dank des gesunkenen Verbrauchs genauso lange wie vor 20 Jahren.
Drei Bs bestimmen die Höhe der gefühlten Inflation
Häufig gekaufte Produkte wie die „drei Bs“ Brot, Butter, Benzin bestimmen die Höhe der durch den Verbraucher gefühlten Inflation. Nach Berechnungen der Bank Unicredit lag sie im Frühjahr in Deutschland bei 3,7 Prozent, während der vom Statistischen Bundesamt offizielle Inflationswert nur 2,1 Prozent betrug. Der Deutschland-Chefvolkswirt der Bank, Andreas Rees, hat mit der Diskrepanz begründet, warum die Verbraucher sich beim Konsum stärker zurückhalten als es die gute wirtschaftliche Lage erwarten ließe.
Für die gefühlte Teuerung hatte der 2011 verstorbene Schweizer Mathematiker und Ökonom Hans Wolfgang Brachinger den Index der wahrgenommenen Inflation, IWI, entwickelt. Nach seinen Untersuchungen werden vom Verbraucher Preissteigerungen höher bewertet als Preissenkungen.
Die Benzinpreis-Diskussion kann als Beleg dieser These dienen. Senkungen werden von der Öffentlichkeit höchstens am Rande zur Kenntnis genommen. Die nächste Aufwärtsrunde Richtung neues Rekordhoch, vielleicht schon in der Weihnachtszeit, wird wieder hohe Wellen schlagen.