Essen. Beim Essener Traditionskonzern Thyssen-Krupp ändert sich derzeit viel, auch die Unternehmenskultur. Heinrich Hiesinger lebt als bodenständiger Chef Offenheit und Geradlinigkeit vor. Im Live-interview in unserer Gläsernen Redaktion auf dem Ideenpark stellte er sich den Fragen von Thomas Wels.
„Guten Tag, Herr Kollege.“ Heinrich Hiesinger ist angekommen, leise durch die Tür ins provisorische Büro, hier auf dem Ideenpark in der Essener Gruga. Keine Spur von laut oder aufgeregt oder sonstigem Chefgehabe, er ist einfach da, ohne Bugwelle, die manch anderes Alphatier eines Dax-Konzerns gerne produziert.
Ein Büro auf dem Ideenpark
Zwei Sekretärinnen, eine halbhohe Stellwand zum Büro des Vorstandskollegen Jürgen Claassen, mehr ist nicht. Von hier aus wird für knapp zwei Wochen einer der größten deutschen Konzerne gesteuert. Viele Termine hat der Chef von Thyssen-Krupp auf dem Ideenpark, da lohnt das Hin- und Herfahren nicht. Und außerdem – dem Mann sieht man an, dass es ihm Spaß macht, über den Park zu schlendern, zuzusehen wie Kinder an Mitmachstationen mitmachen: löten, Autos formen, Schlitten fahren. „Mir gefällt die Offenheit der Menschen im Ruhrgebiet. Die Leute hier sind viel direkter als in Bayern oder Schwaben“, so Hiesinger. Ein Konzernchef zum Anfassen, im blauen Hemd, schlipslos. Jedenfalls, wenn er keinen Besuch hat.
Es ändert sich derzeit vieles beim Thyssen-Krupp-Konzern. Weil die Lage schwierig ist, klar, aber auch, weil ein Chef an der Spitze steht, der so etwas ist wie der Anti-Ruhrbaron. Offenheit, Transparenz, Diskussionsfreude – Hiesinger ist angetreten, die Führungskultur zu ändern. Entscheidungen sollen schneller fallen, nicht wochenlang rauf und runter durch Hierarchieebenen wabern.
Das Handy ist am Wochenende aus
Hiesinger ist anders. Kompetent zweifellos, schließlich war er vor Thyssen-Krupp bei Siemens schon Chef der Industriesparte mit mehr als 200 000 Beschäftigten. Anders vielleicht, weil er bodenständig ist und Dinge sagt wie: Familien- und Berufsleben wolle er trennen, das Handy mache er an Wochenenden aus, und Urlaub betrachte er auch als solchen. Abschalten, um nicht einzuschlafen im Thyssen-Krupp-Orbit.
Journalistenfragen nach seiner Herkunft als ältester Sohn von sechs Geschwistern auf einem Bauernhof der schwäbischen Ost-Alb – er beantwortet sie ohne Koketterie. Es war eben etwas Besonderes, wenn einer in dem 200-Seelen-Dorf Benzenzimmern aufs Gymnasium durfte. Und wenn er heute den elterlichen Hof besucht, dann nicht mit schwarzer Limousine und Fahrer, sondern im Touran, „weil da der Hund reinpasst“.
Ein Packen Zeitungsausschnitte über Thyssen-Krupp
Der Hund ist, wie es sich für einen Bauernsohn gehört, ein Hovawart, ein Hofwächterhund, der „nur beißt, wenn man ihn nicht streichelt“, und der dem Chef zu Hause in Essen ein Stück Ausgleich verschafft vom Chefsein. Ob dann alle staunen im Dorf, wenn der berühmte Sohn heimkehrt? Nein, denn er kehre immer zurück als der Sohn vom Hiesinger, schon deshalb, weil keiner eine Vorstellung davon hat, was ein Vorstandschef so mache, weil die Leute ein solches Wissen für ihr Leben nicht brauchen. Das erdet. Obschon der Arzt im Dorf ab und an der Mutter einen Packen Zeitungsausschnitte über Thyssen-Krupp zusteckt.
Da stehen dann zuweilen Dinge geschrieben, die erahnen lassen, dass der Heinrich nun nicht gerade den leichtesten Job hat. „Wir mussten schwierige Entscheidungen treffen. Ich denke unter anderem an unser Edelstahlgeschäft und unsere Werke in den USA und Brasilien. Aber es hilft nicht weiter, einfach die Augen zu verschließen und zu denken: Es wird schon werden.“ Die Fragen nach dem Desaster in Brasilien, er beantwortet sie gelassen. „Durch die Werke in Brasilien und in Alabama ist uns im letzten Jahr eine Milliarde Euro Verlust entstanden, in den ersten neun Monaten dieses Jahres 778 Millionen Euro. So geht es nicht weiter. Wir müssen einen Schnitt machen, damit auch unsere anderen Konzernbereiche Spielraum für Investitionen erhalten.“
Er kann sich auch mal ärgern
All das sagt er in der gläsernen Redaktion der WAZ-Gruppe auf dem Ideenpark. Er kann aber auch die Stimme heben, nicht, dass er laut wird, aber betont. Wenn es um Siemens und Thyssen-Krupp geht. Die anhaltenden Spekulationen über eine Fusion seien nicht nachvollziehbar. Aufsichtsratschef Gerhard Cromme habe sich ebenso klar geäußert wie Siemens-Chef Peter Löscher und er selbst. „Trotzdem wird weiter munter spekuliert. Das ist ärgerlich.“
Wie auch das „Schüren von Sozialneid“ in der Frage der Energiepreise. Die Kritik, die energieintensive Industrie würde zu Lasten der Verbraucher von der Umlage für erneuerbare Energien freigestellt, sei falsch. „Es stimmt nicht, wenn behauptet wird, wir seien vollständig von der Umlage befreit. Richtig ist: Wir werden entlastet und zahlen statt 260 Millionen Euro rund 80 Millionen Euro im Jahr.“ Und diese Summe müssen die Wettbewerber im Ausland nicht zahlen.
In Benzenzimmern ahnen sie von solcher Unbill nichts. Müssen sie auch nicht.