Berlin/Essen. . Laut einer neuen Studie sind die Arbeitskosten im vergangenen Jahrzehnt in keinem europäischen Land so wenig gestiegen wie in Deutschland.
Diverse Studien haben in den vergangenen Wochen belegt, was die Beschäftigten in Deutschland aus eigener Erfahrung ohnehin wussten: Die Löhne sind im vergangenen Jahrzehnt kaum gestiegen. Nun legt die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung nach – und einen europaweiten Lohnvergleich vor, der Deutschland auf dem letzten Platz bei der Entwicklung der Arbeitskosten führt.
Demnach sind im letzten Jahrzehnt die Löhne und Lohnnebenkosten im Euroraum um jährlich 2,8 Prozent gewachsen, hierzulande nur um 1,7 Prozent. „Deutschland fällt in der Spitzengruppe der Arbeitskosten immer weiter zurück“, kommentiert Gustav Horn, Leiter des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Zu den Arbeitskosten zählen neben dem Bruttolohn die Arbeitgeberanteile an den Sozialbeiträgen und als Arbeitskosten geltende Unternemenssteuern. Im Jahr 2010 kostete eine Arbeitsstunde in Deutschland 29,10 Euro. Damit lag die Bundesrepublik europaweit auf Rang sieben. Am meisten kostete eine Arbeitsstunde in Belgien (38,20 Euro), gefolgt von Dänemark (37,60 Euro) und Schweden (36 Euro). Die Durchschnittskosten im Euroraum liegen bei 27,60 Euro. Schlusslichter sind Spanien mit 20 Euro, Tschechien mit 9,90 Euro und Polen mit sieben Euro.
Dass die deutsche Wirtschaft damit permanent an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den anderen Euroländern gewinne, ist für Gustav Horn eine „bedrohliche“ Entwicklung. Denn der positiven Entwicklung wachsender Exporte stehe ein wachsendes Ungleichgewicht zwischen den Staaten gegenüber. „Das ist in einer Währungsunion auf Dauer nicht durchhaltbar“, warnt der Forscher.
Verstärkt werde dies durch einen unterdurchschnittlichen Anstieg der Lohnstückkosten in Europa. Seit 2000 erhöhten sie sich in Deutschland nur um 6,8 Prozent. Im gesamten Euroraum wuchsen sie dagegen um 21,3 Prozent an.
Doch die Meinungen der Ökonomen über diese Entwicklung könnten nicht weiter auseinandergehen. Wenn die Lohnkosten je produzierter Ware weniger steigen als in anderen Ländern, bedeutet dies eine höhere Produktivität und Innovationskraft. Für Hilmar Schneider, Direktor am Bonner Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit, wäre es „absurd, auf das Niveau der anderen herabzufallen“.
Deutschlands Exportüberschuss wird von seinen europäischen Partnern seit längerem kritisch beäugt. Selbst US-Finanzminister Timothy Geithner forderte 2010 von den wichtigsten Industrieländern, bei zu starken Handelsüberschüssen ihren Export zu drosseln. „Ich stelle mir einen Mittelständler im bergischen Land vor, der aus Rücksicht auf Franzosen und Spanier seine Mitarbeiter früher nach Hause schickt. Das ist doch aberwitzig“, sagt Hilmar Schneider.
Zu viel Export?
IMK-Forscher Gustav Horn argumentiert dagegen mit der lahmenden Binnenkonjunktur und fordert höhere Löhne. Um das Gleichgewicht in den Handelsbeziehungen wiederherzustellen, spricht er sich für Lohnsteigerungen von drei bis 3,5 Prozent im Jahr aus. Auch ein allgemeiner Mindestlohn würde zu ausgeglicheneren Handelsbeziehungen beitragen, weil beides für mehr Konsum und damit wachsenden Importen beitrage.
Hilmar Schneider erwidert, die Lohnzurückhaltung habe zu mehr Beschäftigung geführt. Der Fachkräftemangel werde künftig ohnehin zu steigenden Löhnen führen. Weltweit würden die Arbeitskräfte aber keineswegs knapp. Die logische Folge wäre, dass die Löhne in Deutschland wieder stärker steigen als in anderen Industrieländern.
Darin sehen manche eine Gefahr, manche eine Chance.