Peking. . Weil die USA das Zentrum der globalen Wirtschaft und Finanzen und alle Kredit- und Schuldenprobleme damit verbunden sind, sei die Schuldenkrise in den USA so bedrohlich, sagt der Chef der chinesischen Rating-Agentur Guan Jianzhong.

Er ist Besitzer und Chef der 1994 gegründeten chinesischen Rating-Agentur „Dagong Global Credit Rating“: Guan Jianzhong. WAZ-Korrespondentin Jutta Lietsch sprach mit ihm über die Schuldenkrise in den USA und eine Reform des internationalen Rating-Systems.

Sie haben weltweit Aufsehen erregt, als Ihre Firma im Herbst die Kreditwürdigkeit der USA herabstufte. Wie sehen Sie die Lage jetzt?

Guan Jianzhong: Es wird immer schlimmer. Die USA haben ihre selbst gesetzte Obergrenze der Verschuldung schon durchstoßen und machen mehr und mehr Schulden, allein um die Regierung am Laufen zu halten. Sie sparen nicht bei ihren Ausgaben, obwohl sie auf der Einnahmensseite nicht sehr viel zu erwarten haben. Das größte Problem liegt darin, dass sie an wirtschaftlichen Konzepten und politischen Entscheidungen festhalten, die dem Land eine langfristige Rezession bescheren. Sie müssen ständig die Schulden der Gemeinden erhöhen, um das Wachstum zu fördern - dieses Verhaltensmuster ist Schuld an der Misere, in der sich die USA heute befinden. Das Problem ist grundsätzlicher Natur.


Was würde geschehen, wenn alle Rating-Agenturen die USA herabstuften?

Dafür gibt es nur ein Wort: Katastrophe. Es könnte das gesamte amerikanische Finanzsystem paralysieren und eine Kreditkrise hervorrufen, die schlimmer als die von 2008 wäre. Weil die USA das Zentrum der globalen Wirtschaft und Finanzen und alle Kredit- und Schuldenprobleme damit verbunden sind, würden die Auswirkungen sofort in der ganzen Welt zu spüren sein.

Wird es besser, wenn der amerikanische Kongress eine neue Schuldenobergrenze festlegt?

Faktisch wird sich damit wohl nichts Wesentliches ändern, nur vom Gesetz her, es erlaubt ihnen noch mehr zu borgen, um alte Schulden zu bezahlen. Wären die USA zahlungsunfähig, würden sie wohl sofort zum dritten Mal riesige Geldmengen auf den Markt werfen - und diesmal womöglich nicht 600 Millarden, sondern Tausende von Milliarden Dollars.

Wie unterscheiden Sie sich als chinesische Rating-Agentur von ihren drei großen amerikanischen Konkurrenten?

Wir bewerten die Kreditwürdigkeit eines Staates nach anderen Maßstäben. Wir haben fünf Jahre lang analysiert, welche Standards die amerikanischen Rating-Agenturen anlegen und sind auf viel Problematisches gestoßen. Das fängt bei ihren fünf Bewertungskriterien an. Erstens beurteilen sie jedes Land danach, wieweit es westlichen Vorstellungen von Demokratie entspricht. Zweitens beurteilen sie die wirtschaftliche Stärke eines Landes nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung.

Da liegen die USA vorn.

Guang Jianzhong: Drittens beurteilen sie die wirtschaftlichen und finanziellen Aussichten eines Landes danach, wie offen seine Wirtschaft und sein Finanzsystem sind. Unserer Ansicht nach sagt dies aber nichts darüber aus, ob ein Land fähig ist, seine Schulden zurückzuzahlen. Viertens wollen sie wissen, ob die Zentralbank eines Landes unabhängig von der Regierung ist, und sie wollen auch sehen, ob das Land über eine konvertible Währung verfügt. Die beiden letzten Kriterien sind für sie Vorbedingungen für eine AAA-Bewertung. Und fünftens interessieren sie sich nicht für die Einkommenssituation eines Landes, sondern für die Fähigkeit, Gelder zu beschaffen - das heißt, alte Schulden durch neue zu refinanzieren.


Was ist falsch daran?

Guan Jianzhong: Sie haben ihre Kriterien den westlichen Ländern auf den Leib geschneidert. Wir haben die fünfzehn Top-Schuldennationen analysiert: Alle entsprechen diesen Kriterien. Island, Irland, Griechenland, Italien und Spanien bekamen deshalb sämtlich gute Noten. Die USA und Großbritannien werden mit AAA bewertet und können nicht heruntergestuft werden. Fakt ist jedoch, dass diese Maßstäbe überhaupt nichts darüber aussagen, ob ein Staat praktisch fähig ist, seine Schulden zurückzuzahlen. Darin liegt auch der Grund für die Schuldenkrise der heutigen Industrieländer: Nach solchen Kriterien musste die Welt glauben, dass diese Länder kein Risiko darstellen.

Deshalb fand sich immer jemand, der ihnen Geld borgte.

Und jetzt sehen wir, dass es ein Fehler war. Man hat eine Ideologie beziehungsweise eine Wertvorstellung zum Maßstab für die Risikobewertung von Ländern gemacht. Das ist nicht vernünftig.


Wie sehen Ihre Kriterien aus?

Erstens suchen wir nach den internen Risikofaktoren. Zum Beispiel bei den USA, oder Japan, deren Kreditwürdigkeit wir übrigens auch heruntergestuft haben. Es ist uns egal, wie oft sie betonen, dass ihr politisches und wirtschaftliches System besonders gut sei. Was uns interessiert, ist die Wirkung, die das System auf ihr wirtschaftliches Management hat, das ist unser Bewertungsstandard. Zweitens analysieren wir die Wachstumsperspektiven eines Landes. Wir beurteilen seine gesamten Industrien danach, welchen Rang sie in der Welt haben und wie wettbewerbsfähig sie sind - und nicht nach dem Bruttosozialprodukt pro Kopf oder danach, ob ein Land offen ist oder nicht. Drittens berücksichtigen wir ihr Finanzsystem. Die USA und europäische Staaten zum Beispiel haben sich nicht an der realen Wirtschaft orientiert.

Was heißt das?

Ihre Finanzleute konnten sich immer neue Kreditprodukte zusammenschustern, schließlich wuchs der Anteil des virtuellen Reichtums stärker als der reale Reichtum. Dies ist ein sehr wichtiger Grund dafür, dass die USA in die Finanzkrise geraten sind. Um die Risiken zu beurteilen, müssen wir deshalb das Verhältnis von Finanz- und realer Ökonomie betrachten. Viertens ist es fundamental wichtig, das exakte finanzielle Einkommen zu untersuchen. Fünftens müssen wir die Fähigkeit eines Landes beurteilen, Devisenreserven anzulegen. China zum Beispiel hat über 3000 Milliarden Dollar in Devisenreserven, deshalb verdient es unserer Ansicht nach die Note AAA.

Wem gehört Dagong? Ist es eine staatliche Firma?

Ich bin der Besitzer. Ich stamme aus der Provinz Shanxi, habe früher in der Regierung gearbeitet, wechselte dann in die Privatwirtschaft. Unser Prinzip ist die Unabhängigkeit. Dagong ist unabhängig von der Regierung und von staatlichem Kapital. Unser Management-Team und die Teilhaber dürfen nicht im Bond- und Aktienmarkt tätig sein. Nur so können wir glaubwürdig arbeiten.


Der Ruf nach einer Reform des Rating-Systems wird lauter. Was schlagen Sie vor?

Ich arbeite darauf hin, dass wir eine neue internationale Institution schaffen, in der die Rating-Agenturen aller Länder zusammenarbeiten, um die Sicherheit der globalen Kreditsysteme zu garantieren. Wir werden mit dieser Idee Erfolg haben.

Warum sind Sie da so sicher?

China ist das Land mit der zweitgrößten Wirtschaft und mit guten wirtschaftlichen Zukunftsaussichten. Und es ist ein Kreditgeber. Es ist doch vernünftiger, wenn die Gläubiger die Kreditwürdigkeit der Schuldner bewerten als umgekehrt. Außerdem haben die drei US-Agenturen ihre Legitimität verloren.

Brauchen wir international gültige Regeln für Rating-Agenturen?

Wir sollten zuerst eine neue internationale Rating-Agentur schaffen, dann gemeinsam Kriterien entwickeln und uns schließlich für ein internationales Regelwerk einsetzen.

Was halten sie von einer Europäischen Rating-Agentur?

Diesen Vorschlag gibt es in Europa schon seit dem Jahr 2008. Er ist verständlich: Die Europäer leiden darunter, dass ihre Ratings inzwischen von hohen auf niedrigere Positionen gerutscht sind. Aber objektiv gesehen ist die gesamte europäische Wirtschaft verschuldet. Wenn Schuldner sich selbst bewerten – wer soll dann das Resultat ernstnehmen? Wenn es allerdings nur darum geht, die Bewertungen innerhalb der Euro-Zone als Referenz zu nutzen oder der Europäischen Zentralbank eine Frühwarnung zu geben, dann ist das etwas anderes.

Was sollten die Europäer in dieser Situation tun?

Erstens könnten sie sich für die Reform des internationalen Rating-Systems einsetzen. Zweitens sollten sie Dagong nach Europa bringen, weil unsere Rating-Ergebnisse objektiv sind. Wir könnten die Rolle von Checks and Balances gegenüber den drei großen amerikanischen Agenturen übernehmen.


Dagong statt Moody’s für Europa?

Die Europäer sollten ein doppeltes Rating-System einführen: Nachdem die drei US-Firmen ihre Bewertung beendet haben, sollte man Dagong beauftragen, das Ganze nochmal zu untersuchen. Die zusätzlichen Kosten wären minimal. Ich glaube, dies würde die Situation in Europa drastisch verändern.

Wenn Sie heute als Moderator zu den Schulden-Verhandlungen zwischen US-Präsident Obama und den Republikanern ins Weiße Haus geladen würden, was würden Sie empfehlen?

Sie sollten an die langfristigen Interessen ihres Landes denken – und das Muster ihres Wirtschaftswachstums und die globale Strategie entsprechend ausrichten. Es ist sehr teuer, Weltpolizist zu sein und gleichzeitig mehrere Kriege zu führen. Wenn die hegemoniale Strategie verändert wird, dann werden sich auch die Ausgaben reduzieren und am Ende wird das einfache Volk in Amerika den Nutzen davon haben. Wenn man ständig Geld borgen muss, um seine Hegemonie zu finanzieren, ist das langfristig nicht tragbar.