Essen/Brüssel. . Es scheint derzeit, als könnten die Länder tun, was sie wollen, etwa Sparprogramme auflegen oder Notkredite verteilen Am Ende senken die Ratingagenturen doch den Daumen und verschlimmern die Schuldenkrise noch weiter.

Ein Kind, das artig seine Hausaufgaben macht, sie der Mama zeigt und wegen eines Kommafehlers trotzdem eine Woche Fernsehverbot bekommt, versteht die Welt nicht mehr. Etwa so ergeht es derzeit Europas Finanzministern mit ihren Erziehungsberechtigten – den Ratingagenturen.

Es scheint derzeit, als könnten die Länder tun, was sie wollen, Sparprogramme auflegen, Notkredite verteilen und Bürgschaften übernehmen: Am Ende senken die Ratingagenturen doch den Daumen und verschlimmern die Schuldenkrise nur noch weiter. So weit die Politikerschelte. Doch sind die amerikanischen Bonitätsbewerter wirklich Krisentreiber oder nur Überbringer der schlechten Nachrichten?

Ratingagenturen bestimmen darüber, wie kreditwürdig ein Staat ist. Damit beeinflussen sie, wie viele Zinsen Investoren von einem Land verlangen, dem sie Geld leihen. Da sich die drei US-Agenturen Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch 90 Prozent des Marktes teilen, besitzen sie eine immense Macht.

Ein Beispiel verdeutlicht, was die Politik so ohnmächtig macht: Portugal beschließt am 2. Juli ein neues Sparpaket, um seiner Schuldenspirale zu entkommen. Der „Lohn“ ist eine krachende Ohrfeige von der Agentur Moody’s. Sie senkt Portugals Bonität gleich um vier Stufen und warnt damit Investoren vor „riskanten“ Anleihen. Als Grund geben die Analysten an, Portugal werde zu hohe Zinsen zahlen müssen, um an frisches Geld zu kommen. Nur: Die Warnung an sich lässt schon die Zinsen weiter steigen. Die Prophezeiung erfüllt sich selbst.

Vorwürfe, die Ratingagenturen seien nicht unabhängig, ziehen nicht

Andererseits: Prognosen abzugeben, ist die Aufgabe der Ratingagenturen. Und die Analysten begutachten die Bonität eines Landes nicht aus eigenem Antrieb, sondern im Auftrag des Staates, der die Bewertung auch noch selbst bezahlen muss. Der Vorwurf, die Agenturen seien nicht unabhängig, zieht hier offensichtlich nicht. Ganz im Gegenteil: Moody’s hat ihre eigenen Auftraggeber abgestuft.

Wie ratlos die Politik ist, lässt die zunehmende Schärfe ihrer Attacken gegen die US-Agenturen erahnen. Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble fordert, ihr Oligopol „zu brechen“. EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier geht noch weiter und will ihnen die Bewertung von Krisenstaaten wie Griechenland gleich ganz verbieten.

Dahinter steckt der Vorwurf, die US-Agenturen würden aus Unkenntnis über die europäischen Verhältnisse oder aus US-Loyalität sogar absichtsvoll europäische Länder abwerten und damit ihre Marktmacht ausnutzen. Dagegen weist der Deutschland-Chef von Standard & Poor’s, Torsten Hinrichs, zurück, diese Macht überhaupt zu besitzen: „Ein Rating ist unsere Einschätzung darüber, wie sich die Zahlungsfähigkeit und -willigkeit eines Staats künftig entwickelt. Wie Banken oder Versicherer mit dieser Bewertung umgehen, bleibt ihnen überlassen.“

Überlegungen zu einer Europäischen Agentur

Damit macht er sich freilich kleiner, als er ist. Alle gewichtigen Investoren orientieren sich an den Noten der großen Drei, für manche ist das sogar Pflicht. Und zwar von Staats wegen. So hat Deutschland wie seine europäischen Partner auch die Bonitätsnoten selbst zum Standard erklärt. „Die Noten sind Teil der staatlichen Regulierung“, sagt Finanzwissenschaftler Stephan Paul. So dürften Versicherungen und Pensionsfonds nur sichere Anleihen halten. Werden sie von den Ratingagenturen als unsicher eingestuft, müssen sie diese verkaufen. Auch Banken müssten sich auf Geheiß des Staates an den Bonitätsnoten orientieren, wenn es um die Bemessung ihres Eigenkapitals geht. Europas Staaten bekämpfen demnach Institutionen, deren Macht sie selbst zementiert haben.

Die Europäer wollen deshalb unabhängiger von den US-Agenturen werden und planen eine eigene Ratingagentur. Nur: Wäre die wirklich unabhängiger? „Ob eine Bank, ein Investor oder ein Staat die Agentur bezahlt – Interessenkonflikte haben sie immer“, sagt Paul. Das gelte auch für die Europäische Zentralbank. „Sie eiert selbst in der Griechenland-Krise herum, hält sogar Anleihen.“ Der Verdacht, eine von europäischen Institutionen getragene Ratingagentur könnte Krisenstaaten absichtsvoll zu gut bewerten, liegt auf der Hand.

Letztlich hätte eine neue Agentur nur Gewicht, wenn Investoren ihren Bewertungen glauben. Würden Geldgeber einer bewusst als Gegenpol zu den amerikanischen gegründeten Europa-Agentur mehr vertrauen als den etablierten? Paul glaubt das nicht: „Wenn sie die gleichen Daten nur anders bewertet, macht das Investoren skeptisch. Kommt sie zu den gleichen Noten, ist sie überflüssig.“