Berlin. . Die deutsche Wirtschaft brummt weiter: Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) und das Hamburgische Weltwirtschaftsinstitut (HWWI) erhöhten am Donnerstag ihre Prognose für 2011 kräftig auf 3,6 beziehungsweise 3,5 Prozent. Deutschlands anhaltenden Konjunktur-Boom haben Industrie und Politik, vor allem aber die Arbeitnehmer ermöglicht.
Wie schnell sich die Zeiten ändern. Keine zehn Jahre ist es her, da galt das Wachstumsschlusslicht Deutschland noch als der „kranke Mann Europas“. Verkrustete Strukturen, starre Arbeitsmärkte, zu hohe Löhne – Ökonomen setzten kurz nach der Jahrtausendwende keinen Pfifferling mehr auf den Standort D. Unternehmen investierten andernorts, und Ökonom Hans-Werner Sinn stellte in einem provozierenden Bestseller die Frage: „Ist Deutschland noch zu retten?“ Deutschland war offensichtlich noch zu retten; und das weitaus schneller und mit deutlich milderen Einschnitten, als radikale Marktpropheten wie Sinn es damals prophezeit hatten. Heute ist die Bundesrepublik der wirtschaftliche Superstar des Kontinents. Die ganze Welt blickt mit Respekt auf das fulminante Comeback der größten europäischen Volkswirtschaft.
Sucht man nach den Gründen für Deutschlands zweites „Wirtschaftswunder“, wird schnell deutlich, dass im Zentrum des Booms weniger ein Wunder als harte Arbeit und schmerzhafte Reformen standen. Unstrittig ist, dass Deutschland einer der größten Gewinner der Globalisierung ist. Kaum ein zweites Land in der Welt profitiert mit seinen Exporten so von der internationalen Arbeitsteilung.
Die Produkte deutscher Maschinen- und Autobauer sind äußerst gefragt, weil sie einfach sehr gut sind. Motor des Aufschwungs ist und bleibt die deutsche Industrie. Im April fielen die Auftragseingänge mit einem Plus von 2,8 Prozent wieder kräftig aus. Deutschlands Unternehmen profitieren von einem flexibilisierten Arbeitsmarkt und davon, dass sie auf boomende Schwellenländer wie China gesetzt haben.
Überhaupt die Industrie: Sie ist das Aushängeschild der deutschen Wirtschaft. Gegen den allgemeinen Trend seit den achtziger Jahren haben die Deutschen auf einen stabilen Anteil der produzierenden Betriebe an der Wirtschaftsleistung gesetzt. Das zahlt sich heute aus. Während Großbritannien und die USA die Folgen ihrer De-Industrialisierung schmerzhaft spüren, geht die Bundesrepublik dank Daimler, Siemens und einer Fülle industrieller Mittelständler sogar gestärkt aus der Krise hervor. Heute zeigt sich, dass echte Waren doch solider sind als virtuelle Erzeugnisse und Finanzdienstleistungen.
Der Erfolg hat also viel mit politischen Reformen und der Weitsicht und Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen zu tun – aber viel auch mit der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer. Kein anderes Land der Welt hat seine Konkurrenzfähigkeit in den vergangenen zehn Jahren so gesteigert wie Deutschland. Die Lohnstückkosten sanken oder stiegen nur mäßig; von zu hohen Personalkosten spricht heute keiner mehr. Im Gegenteil: Andere europäische Länder wie Frankreich fordern, Deutschland solle es mal nicht übertreiben mit seiner Wettbewerbsfähigkeit.
Ob zu Recht oder nicht, darüber wird die Zukunft entscheiden. Denn Deutschlands Ökonomie steht an einem Scheidepunkt. Die globale Wirtschaft zeigt Ermüdungserscheinungen, die Amerikaner schwächeln wieder, jetzt ist der Zeitpunkt, da der Funke vom Export auf den Binnenmarkt überspringen müsste.
Klare Indizien dafür gibt es. Der Arbeitsmarkt ist in sehr guter Verfassung, und nach einem leichten Anstieg 2010 dürften die privaten Konsumausgaben in diesem Jahr nochmals um rund ein Prozent zulegen. „Richtig ist, dass die deutsche Wirtschaft derzeit etwas balancierter wächst als in den letzten Jahren, wir hängen nicht mehr ganz so extrem an den Ausfuhren“, gesteht selbst der gewerkschaftsnahe Experte Gustav Horn vom Forschungsinstitut IMK ein.
Ob das aber ausreicht, um die Verbraucher zum Konjunkturmotor zu machen? Zweifel sind angebracht. Das IMK rechnet vor, dass die Zuwächse des privaten Konsums während der achtziger und neunziger Jahre doppelt so hoch ausfielen wie heute. Arbeitnehmer, und Gewerkschaften geben sich weiterhin eher bescheiden. Das ist einerseits gut, weil die Unternehmen so ihre Kosten im globalen Wettbewerb im Griff halten. Andererseits bleibt die Anpassungslast der Globalisierung so überwiegend an den Arbeitnehmern hängen.
Wackelige Arbeitsplätze, Minijobs, Leiharbeit und derzeit rasch steigende Inflationsraten sind nicht dazu angetan, die deutsche Konsumschwäche dauerhaft zu überwinden. Und so hat das gepriesene Geschäftsmodell Deutschland auch eine Schattenseite – es ist die andere Seite der selben Medaille.