Essen.. Das Wachstum der Lebensmittel-Discounter ist gestoppt. Laut Konsumforschung könnten sie erstmals nach Jahrzehnten Marktanteile verlieren. Klassische Supermärkte profitieren von der Trendwende. Sie setzen zunehmend auch auf eine Wohlfühlatmoshäre.
Der Lebensmittel-Handel ist im Umbruch. „Die Discounter in Deutschland haben ihren Zenit erreicht“, sagt Wolfgang Twardawa von der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK). Erstmals seit ihrer Gründung könnten die Marktanteile von Aldi, Lidl und Co. in diesem Jahr sinken. Bisher teilen sie sich 45 Prozent der Umsätze in Höhe von fast 150 Milliarden Euro pro Jahr. In keinem anderen Land Europas sind Lebensmittel-Discounter so erfolgreich.
Der Siegeszug der Billiganbieter schien bis 2007 unaufhaltsam. Die seit Anfang der 1960er-Jahre etablierten und zunächst auf kleine Sortimente ausgelegten Läden steigerten regelmäßig Filialzahl, Angebote, Umsätze. Bis zur Jahrtausendwende hatten sie 32,1 Prozent, bis 2006 fast 43 Prozent des Marktes erobert und die Sortimente nach und nach erweitert – um Milch, Fleisch, aber auch Mobiltelefone, Socken oder Schlauchboote. Ihr Erfolg ging zulasten der klassischen Supermärkte.
Im Jahr 2007 schwächte sich das Wachstum deutlich ab. Discount-Marktführer Aldi verbuchte laut Managementberatung Accenture sogar erstmals in seiner Geschichte ein Umsatz-Minus .„Selbst die Wirtschaftskrise hat die Trendwende in der Branche nicht stoppen können“, sagt Wolfgang Twardawa.
„Die Geiz-ist-Geil-Mentalität hat sich seit 2004 gedreht“
Den Forschern zufolge gibt es dafür mehrere Gründe: Strukturell stoße das Wachstum der Discounter an Grenzen. „Jeder Haushalt kann in fünf Minuten drei Discounter erreichen. Ein Markt mehr oder weniger bringt da nicht mehr viel“, sagt Twardawa. Darüber hinaus verändere sich das Konsumverhalten. „Die Geiz-ist-Geil-Mentalität hat sich seit 2004 gedreht.“ Auswahl, Service und Qualität spielen wieder eine größere Rolle. Twardawa: „Ich will es mal so beschreiben: Der Verbraucher will beim Einkaufen ein gutes Gefühl haben.“
Gewinner dieses Trends sind die bisherigen Verlierer: klassische Supermärkte, an der Spitze Edeka und Rewe. Sie unterscheiden sich durch ein Mehr an Auswahl, nennen sich deshalb Vollsortimenter und haben bis zu 40 000 Produkte im Angebot. Discounter begnügen sich meist mit 1600. Der klassische Lebensmittelhandel bediene ein steigendes Bedürfnis nach Vielfalt. Und er habe in Sachen Professionalität aufgeholt, urteilt die GfK.
Hilfreich dabei ist die Struktur der Edeka- und Rewe-Vollsortimenter. Sie werden in der Regel von selbstständigen Händlern geführt, die zwei international tätige Gruppen im Rücken haben. Edeka und Rewe setzten 2009 mit Supermärkten, Discountern oder Getränkemärkten über 85 Milliarden Euro um.
Neue Kaufkultur
„Wir haben die Discounter lange Zeit extrem unterschätzt“, sagt einer von 4500 Edeka-Händlern, Marcus Urbich. Der 43-Jährige führt selbstständig drei Supermärkte in Herne. „Wir mussten beweglicher werden und andere Wege gehen. Weil wir vor Ort verankert sind, können wir das besser als die standardisierten Discounter.“
Der Händler aus Herne stützt die Ergebnisse der Konsumforschung: Auch in seinen Märkten steige der Umsatz. Einer GfK-Studie zufolge jagten Edeka- und Rewe-Supermärkte dem Discount-Riesen Aldi im vergangenen Jahr Umsätze in Höhe von 140 Millionen Euro ab.
Marcus Urbich setzt seit 2005 bewusst auf eine neue Kaufkultur. Weil Vollsortimenter durch günstiger Eigenmarken beim Preisvergleich mit Discountern mithalten könnten, betonte er Atmos-phäre oder Service. Wenn der Kunde ein Produkt suche, müsse er Personal finden, das ihn zum richtigen Regal begleite. „So soll es sein, auch wenn es nicht immer klappt“, sagt er.
Mehr Individualität
Die GfK mahnt die Discounter schon zum Umsteuern, wollten sie im Lebensmittel-Handel nicht weiter zurückfallen. Sie müssten individueller werden oder zum alten Prinzip zurückkehren: „Ganz wenige Artikel, ganz niedrige Preise“. Der demografische Wandel jedenfalls spiele ihnen nicht in die Karten. Die Zahl der klassischen Supermarktkunden – Alleinstehende, Rentner, Paare ohne Kinder – steige. In einer Studie, die mögliche Entwicklungen bis 2020 untersucht, heißt es: In einem Verdrängungsmarkt könnte es durchaus „ein Erdbeben“ geben.