Dartford. Vor fünf Jahren trat Großbritannien aus der EU aus. Der versprochene Boom ist ausgeblieben, viele Brexit-Wähler sind ernüchtert.

In Dartford, einer kleinen Stadt südöstlich von London, ist gerade ein Regenschauer vorbeigezogen. Die Fußgängerzone glänzt in der Sonne, die Leute wagen sich heraus auf die Straße. Miese Stimmung macht sich jedoch umgehend breit, wenn man die Leute auf den Brexit anspricht.

„Oh, my goodness“, sagt Kerry Hawkins. Die 82-Jährige, geschminkt und mit altmodischem Glockenhut, ist gerade auf dem Weg zum Verwandtenbesuch. „Den Brexit haben sie richtig vermasselt.“ Ja, sie habe damals dafür gestimmt, aber sie erinnere sich jetzt gar nicht mehr richtig, warum eigentlich. „Ach ja“, sagt Hawkins dann: „Ich wollte, dass wir Briten unsere eigenen Entscheidungen machen.“ Und dann sei da die Immigration: „Wir haben offene Grenzen und wissen gar nicht, wer eigentlich ins Land kommt.“ Aber in den vergangenen fünf Jahren habe sich überhaupt nichts verändert, eine wirkliche Verbesserung der Lebensumstände habe es auf jeden Fall nicht gegeben.

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    Mittlerweile halten 55 Prozent der Briten den Brexit für einen Fehler

    So geht es vielen. Dartford war mal eine überzeugte Brexit-Stadt: Mehr als 63 Prozent der Bevölkerung in diesem Wahlkreis stimmten 2016 für den EU-Austritt. Am 31. Januar 2020, dem Tag, als der Brexit Realität wurde, lud der Konservative Club zu einer Feier, es gab Schampus und eine Tombola. Heute jedoch hat man Mühe, überhaupt Leute zu finden, die den EU-Austritt für einen Erfolg halten. In Gesprächen mit den Leuten spürt man Enttäuschung, Resignation, Verärgerung.

    Daily Life In Dartford, Britain's Longest-Standing Bellwether Constituency
    Der örtliche Pub in Dartford. 63 Prozent stimmten hier für den Brexit. © Getty Images | Dan Kitwood

    Das lässt sich aufs ganze Land übertragen: In den vergangenen Jahren sind immer mehr Briten zum Schluss gekommen, dass der Brexit nicht so richtig gezündet hat. Laut einer neuen Umfrage finden 55 Prozent, der Brexit sei ein Fehler gewesen; nur 30 Prozent halten daran fest, dass es der richtige Entscheid war.

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    Arbeitskräftemangel und Papierkram: Brexit belastet Wirtschaft

    Wer die Gründe dafür finden will, muss nicht lange suchen. Am offensichtlichsten sind die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts. Es war nicht der große Crash, den manche Ökonomen prognostiziert hatten; vielmehr gleicht der Brexit-Schaden einem Loch im Pneu, der der Wirtschaft langsam die Luft ablässt, wie der Thinktank UK in a Changing Europe anmerkt. Der Rechnungshof Office for Budget Responsibility schätzt, dass Großbritanniens Wirtschaftsleistung auf lange Frist um 4 Prozent kleiner sein wird, als wenn das Land Teil der EU geblieben wäre.

    In den Jahren nach dem Brexit klagten Unternehmen über einen Mangel an Arbeitskräften, weil viele EU-Migranten abgereist waren. Zudem kämpfen Import- und Exportfirmen mit zusätzlichem Papierkram. Eine im Dezember publizierte Analyse des Centre for Economic Performance an der London School of Economics hat ergeben, dass der Brexit-Handelsvertrag vor allem kleine Exportfirmen getroffen hat: Der Wert ihrer Exporte hat sich seit Inkrafttreten des Vertrags um 30 Prozent verringert.

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    Der Frust sitzt tief – auch bei Brexit-Anhängern

    Joe Sasko sitzt in seinem Lieferwagen hinter dem Shopping-Zentrum von Dartford und raucht eine Zigarette. „Was für ein Ärger“, sagt er zum Brexit. Sasko führt zusammen mit seiner Frau einen Gemüsestand hier im Zentrum. Es dauere etwa fünf Tage, bis er manche Produkte aus der EU geliefert bekäme – früher sei es ruck zuck gegangen. Auch habe die Grenzbürokratie die Kosten in die Höhe getrieben.

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    Brexit-Befürworter feierten vor fünf den EU-Austritt. © AFP/Getty Images | Getty Images

    Sasko kam 2003 als 20-Jähriger von Ungarn nach Großbritannien. Zunächst arbeitete er in einem Zirkus als Rigger, bereiste das ganze Land, von Kent bis zu den Shetland-Inseln. 2020, im Brexit-Jahr, eröffnete er seinen Gemüseladen. Der EU-Austritt hatte auch persönliche Folgen für ihn: Seine Frau ist Nepalerin, sie braucht jetzt für Reisen in die EU – etwa zum Familienbesuch in Ungarn – ein Visum. Trotz allem fühlt sich Sasko noch immer heimisch in Dartford.

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    Der Gemüsehändler war schon immer gegen den Brexit. Aber in den Straßen von Dartford trifft man auf viele überzeugte EU-Gegner, die genauso ernüchtert sind. Kane Lewis ist einer von ihnen. Der 22-Jährige mit dem Stoppelbart war zwar zu jung, um 2016 am Referendum teilzunehmen, aber er hätte den Brexit unterstützt. Er sah es als eine Möglichkeit, dem Land zum Aufschwung zu verhelfen, sagt er.

    Aber das genaue Gegenteil ist eingetreten. „Die Regierung hat beim Sozialstaat weitere Abstriche gemacht, und der EU-Austritt hat uns nicht davor bewahrt, dass die Inflation stark angestiegen ist“, sagt er. „Auch dem Gesundheitsdienst geht es schlecht.“ Lewis hat eine Behinderung und beansprucht den NHS oft. „Aber jedes Mal, wenn ich Hilfe brauche, muss ich endlos lange rumtelefonieren, bis jemand verfügbar ist.“

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    Fast jeder fünfte Brexit-Wähler bereut seine Entscheidung

    Dennoch findet er, dass der Brexit an sich richtig war: Das Problem sei vielmehr, dass er nicht mit der nötigen Entschlossenheit umgesetzt worden sei. Vor allem hätte die Migration gedrosselt werden sollen. Er denkt, wenn Boris Johnson noch immer Premierminister wäre, dann würde es dem Land besser gehen – ungeachtet der Tatsache, dass es gerade Johnson war, der den Brexit-Deal ausgehandelt hat. Lewis sagt, er würde heute wohl für die Rechtsaußenpartei Reform UK stimmen. 

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    Der frühere Premierminister Boris Johnson war entschiedener Brexit-Verfechter. © AFP via Getty Images | Ben Stansall

    Allerdings gibt es eine wachsende Zahl von ehemaligen Leave-Wählern, die es sich angesichts der harschen Brexit-Realität anders überlegt haben. Laut der YouGov-Umfrage halten 18 Prozent der Brexit-Wähler von 2016 ihren damaligen Entscheid für einen Fehler. Großmutter Kerry Hawkins ist eine von ihnen. Auf die Frage, ob sie heute nochmal für den EU-Austritt stimmen würde, meint sie nach einigem Zögern: „Wahrscheinlich nicht.“