Essen. Mehr Frauen kommen in Führungspositionen. Aber Männer haben das Sagen, kritisiert Professorin Anja Seng. Sie sagt, was sich ändern soll.

Der Frauenanteil im Top-Management der größten deutschen Börsenkonzerne hat mit 25,7 Prozent einen Höchstwert erreicht. Auch in die Aufsichtsräte ziehen demnach immer mehr Frauen ein: Hier lag die Quote im Dax bei 39,7 Prozent. Die Zahlen hat die Organisation „Frauen in die Aufsichtsräte“ (FidAR) erhoben. Mit ihrer Präsidentin, der Essener Professorin Anja Seng, die an der privaten Hochschule FOM lehrt, sprachen wir darüber, warum es Frauen immer noch schwerer haben als Männer und was dagegen helfen kann.

Frau Seng, Sie führen den Verein „Frauen in die Aufsichtsräte“ und haben einen guten Überblick. Holen die Frauen auf?

Anja Seng: Die Hälfte der Gesellschaft ist weiblich, doch an den Hebeln der Macht sitzen immer noch deutlich mehr Männer. Deshalb gibt es keine gleichberechtigte Teilhabe in Führungspositionen.

Warum ist das so?

Seng: Wir haben noch einen weiten gesellschaftlichen Weg vor uns. Und es braucht auch das Wollen der einzelnen Frauen ebenso wie ihre Unterstützung untereinander. Sie müssen lernen, Netzwerke zu bilden. Das Netzwerk Herhood des Initiativkreises Ruhr ist ein gutes Beispiel dafür. Das hat auch etwas mit der Sozialisation zu tun. Jungs stimmen sich ab und sind wettbewerbsorientiert. Mädchen begegnen sich auf Augenhöhe und sind alle eher gleich. Mädchen dürfen ja auch nicht im Gegensatz zu Jungs toben. Das hat viel mit Erziehung zu tun.

Müssen also Frauen so werden wie Männer, um ähnliche Karrierechancen zu haben?

Seng: Das glaube ich ganz und gar nicht. Wenn sich Frauen dauerhaft verstellen müssten, wäre das eher kontraproduktiv. Es müssen nicht alle graue Anzüge tragen. Frauen wie Männer sollten authentisch auftreten – das ist auch gut für ihre Glaubwürdigkeit.

Dennoch fällt auf, dass in großen Konzernen oft nur eine Frau im Vorstand sitzt und weibliche Vorstandsvorsitzende eher die Ausnahme sind.

Seng: Die Veränderungen sind langsam und auch leider nur innerhalb der gesetzlichen Regelungen. Doch es tut sich was. Das haben wir ja gerade bei der Commerzbank gesehen. Bettina Orlopp ist von der Finanzvorständin zur CEO aufgestiegen. Dennoch haben Sie Recht. Viele Konzerne halten sich einfach an das gesetzliche Mindestbeteiligungsgebot.

Muss die gesetzliche Frauenquote in Vorständen und Aufsichtsräten aus Ihrer Sicht erhöht werden?

Seng: Tatsächlich handelt es sich um eine Geschlechterquote. Es geht um gleichberechtigte Teilhabe. Deshalb muss eine paritätische Besetzung der Gremien das Ziel sein. Das deutsche Führungspositionen-Gesetz aus dem Jahr 2015 sieht vor, dass in börsennotierten und voll mitbestimmten Unternehmen – also nur etwa 100 Unternehmen –  jeweils 30 Prozent der Aufsichtsratssitze mit Frauen und Männern besetzt sein müssen. Das sind wenige Unternehmen. In der EU ist man übrigens mit 40 Prozent schon einen Schritt weiter.

Was fordern Sie konkret?

Seng: Wir als FidAR wollen, dass die Quote für mehr Unternehmen gilt, nicht nur in den börsennotierten und voll mitbestimmten Unternehmen, sondern in den börsennotierten oder mitbestimmten. Damit wäre sie für rund 2000 Firmen in Deutschland anzuwenden. Dann wird die gleichberechtigte Teilhabe ein Stück weit Normalität.

Reicht es denn aus, Frauen via Gesetz in Führungspositionen zu bringen?

Seng: Natürlich nicht. Die Quote kann nur eine Tür öffnen. Danach muss unbedingt eine Unternehmenskultur geschaffen werden, in der Frauen auch in ihren Führungspositionen bleiben wollen und können. Selbstgesetzte Zielgrößen, die übrigens auch gesetzlich verankert sind, sind dafür extrem hilfreich. Oder ich denke da an innovative Arbeitszeitregelungen wie zum Beispiel an das ,Führen in Teilzeit‘, ein Modell, das dann zu einer Veränderung von Kultur führen kann, wenn es für Frauen und Männer gleichermaßen gilt. Um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, braucht es natürlich auch entsprechende Kitas und Schulen.

Unternehmenskultur bedeutet aber auch, dass sich in den Köpfen etwas ändern muss.

Seng: Ja, es müssen Strukturen geschaffen werden, die Frauen das Erreichen von Führungspositionen ermöglichen. Ich denke da zum Beispiel an „Bauchgefühl-Gespräche“ bei der Einstellung neuer Mitarbeitender. Warum wird nicht eine kompetenzorientierte Auswahl durchgeführt, protokolliert im Mehraugenprinzip von geschulten Interviewerinnen und Interviewern? Wissenschaftlich belegt ist, dass auch Leistungs- und Intelligenztests in den Vorstellungsrunden die Auswahlentscheidung verbessern können – und das ist nicht zuletzt wirtschaftlich sinnvoll. Und Fotos in der Bewerbungsmappe sollten generell tabu sein, das steht nicht nur im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, sondern es ist auch klar, dass das Aussehen keinen Rückschluss auf die Kompetenz der jeweiligen Person ermöglicht.

Was versprechen Sie sich davon?

Seng: Eine fairere und bessere Auswahl – und zwar aller.

Die Zahl der Frauen in Vorständen und Aufsichtsräten wächst. Ist Deutschland auf einem guten Weg?

Seng: Gut sind wir sicherlich noch nicht. Das zeigt sich auch an der aktuellen wirtschaftlichen Situation. Es geht ja darum, die nach wie vor bestehenden Ähnlichkeitsstrukturen aufzubrechen und durch neue Perspektiven zu erweitern. So ist es doch zum Beispiel auch bemerkenswert, dass es kaum Menschen mit einer ostdeutschen Biografie in Führungspositionen gibt – im übrigen auch nicht in der Politik. Wir haben nach wie vor nur die männliche Perspektive auf den Entscheidungsebenen. Das ist nicht gut.

>>> Hersummit mit 120 Managerinnen
Anja Seng war auch Rednerin beim „Hersummit“, zu dem das Wirtschaftsbündnis Initiativkreis Ruhr und der Energiekonzern RWE vor Weihnachten nach Essen eingeladen hatten. Zu dem Netzwerktreffen kamen rund 120 Frauen aus unterschiedlichsten Unternehmen und Branchen folgten.
„Die Ziele des „Hersummit“, Frauen in Führungspositionen zu stärken und zu vernetzen, passen perfekt zu unserem Engagement für Vielfalt und Chancengleichheit. Der Wandel betrifft uns alle – und gemeinsam können wir ihn erfolgreich vorantreiben“, sagte die miteinladende RWE-Personalvorständin Katja van Doren nach der Veranstaltung.
Der scheidende Co-Moderator des Initiativkreises Ruhr, Andreas Maurer, sieht gute Chancen für Frauen gerade im Revier. „Wir wollen zeigen, dass die Region Ruhrgebiet großartige Perspektiven und Möglichkeiten bietet, den eigenen Karriereweg zu gestalten.“