Berlin. Hohe Krankenstände machen Arbeitgeber nervös. Ein Wirtschaftsexperte sieht die wahre Ursache in einem statistischen Erfassungseffekt.
Viele Arbeitgeber klagen aktuell über hohe Krankenstände in ihren Betrieben. „Dabei sind die Zahlen wahrscheinlich gar nicht drastisch gestiegen“, ist der Leiter des ZEW-Forschungsbereichs „Arbeitsmärkte und Sozialversicherungen“, Nicolas Ziebarth, überzeugt. Vielmehr seien sie Folge eines „statistischen Erfassungseffektes“. „Seitdem die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) seit 2022 elektronisch erfasst werden, werden auch die Krankenstände viel besser und genauer erfasst“, sagte Ziebarth dieser Redaktion. Zuvor landeten viele gelbe Zettel, die erkrankte Arbeitnehmer von ihren Ärzten erhalten haben, erst gar nicht beim Arbeitgeber, sodass diese dann auch nicht registriert wurden.
„Dennoch sind die Krankenstände in Deutschland sehr hoch“, so Ziebarth, „was unserer Meinung nach aber schon immer so war.“ Ein Grund dafür sei auch „die Großzügigkeit unseres Gesundheitssystems“, ist der Ökonom überzeugt: „Deutschland hat mit seiner sechs Wochen langen hundertprozentigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eines der großzügigsten Lohnfortzahlungssysteme der Welt.“ Durch diese Absicherung kann es allerdings dazu kommen, dass sich manche Menschen auch schon bei leichten Anzeichen einer Erkältung frühzeitig krankmelden. In anderen Ländern, wo es nicht vom ersten Tag an großzügige Lohnersatzleistungen gibt, werde Krankheit eher auch zur ökonomischen Frage.
In Schweden können Arbeitnehmer von Ärzten „Teilzeit-krank“ geschrieben werden
„So erhalten Arbeitnehmer selbst in Schweden, das nicht als Land der sozialen Kälte gilt, nur 80 Prozent ihres Gehaltes an Krankheitstagen“, berichtet Ziebarth. Allerdings können Arbeitnehmer in Schweden von Ärzten auch als „Teilzeit-krank“ geschrieben werden, sodass sie Lohneinbußen durch wenige Stunden Arbeit neben der Krankheit ausgleichen können. In Deutschland ist dies nicht möglich: Wer krank ist, ist krank und darf nicht arbeiten. Also null Stunden. „Manche Arbeitnehmer fühlen sich aber durchaus imstande, trotz Krankheit vier Stunden zu arbeiten, wollen dies auch, aber dürfen es gesetzlich nicht“, erläutert Ziebarth.
„Teilzeit-Krankheitstage könnten deshalb auch in Deutschland eine freiwillige Lösung sein, auf die sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer einigen könnten“, schlägt Ziebarth vor. Dies funktioniere natürlich nicht bei allen Krankheiten. „Aber wer beispielsweise mit seinem kranken Kind zum Arzt müsse, muss deshalb nicht unbedingt einen ganzen Tag krankgeschrieben werden, sondern könnte nach dem Besuch auch noch vier Stunden arbeiten.“
Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, steht Teilzeitkrankschreibungen offen gegenüber: „Eine praktikable Form von Teilzeitkrankschreibung für einige Stunden täglich könnte den neuen Möglichkeiten Rechnung tragen und für mehr Flexibilität sorgen.“ Die Arbeitswelt habe sich in den letzten Jahren sehr stark verändert, insbesondere durch die Digitalisierung und die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten. „Trotzdem unterscheiden wir in unserem Gesundheitswesen weiterhin grundsätzlich zwischen Arbeitsfähigkeit und Arbeitsunfähigkeit“, sagte Reinhardt dieser Redaktion.
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Bundesärztekammer-Präsident zeigt sich offen für „Teilzeit-Krankschreibungen“
Deutschland habe zudem gute Erfahrungen mit Wiedereingliederungsprogrammen nach langen Krankheitsphasen gemacht, bei denen die Arbeitszeit schrittweise erhöht werde – wie durch das Hamburger Modell. „Diese Erfahrungen ließen sich sicher auch auf weniger schwere Erkrankungen übertragen“, ist Reinhardt überzeugt. „Ein Beispiel dafür sind Bagatellinfekte, bei denen der direkte Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen im Büro vermieden werden sollte. In solchen Fällen bietet das Arbeiten im Homeoffice aber unter Umständen die Möglichkeit, im begrenzten Umfang berufliche Aufgaben wahrzunehmen und sich dennoch zu erholen.“ Allerdings müsse klar sein, „dass dabei das Wohlergehen und die ungefährdete Genesung der Erkrankten immer an erster Stelle stehen muss“.
Der ZEW-Ökonom Ziebarth sieht in Teilzeit-Krankschreibungen dennoch „keine Wunderwaffe für geringere Fehlzeiten“. Von einer generellen Abkehr von Lohnfortzahlungen vom ersten Tag an rät er ebenfalls ab: „Die Deutschen wünschen sich diese Form der sozialen Gerechtigkeit.“
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