Gelsenkirchen. Ob Musikinstrumente oder Brillen: Mit der Maschine dieses Tischlers kreieren viele Betriebe ihre Produkte. Dabei stand er kurz vor dem Ruin.
Sieben bis elf Minuten, so lange dauert es laut Tischler Burkhard Bessler, einen Stuhl herzustellen. Bevor er in seiner Werkstatt zu jeder Zeit mindestens zwei große Holzfräsen stehen hatte, hätte er länger gebraucht. Die Geräte bezeichnet er als Mitarbeiter – während sie aus Computerdaten Bauteile schaffen, kann er andere Aufgaben erledigen.
Im Gelsenkirchener Büro des Tischlers stammt alles von der Maschine: Tische, Stühle, Schränke und Deko. Viel spannender ist aber, was hinter dem Büro liegt. Auf 780 Quadratmetern erstreckt sich die Werkstatt. Hier entstehen äußerst selten Möbel. Besslers Hauptgeschäft ist seit 2017 das Herstellen sogenannter CNC-Holzfräsen: „Computerized Numerical Control“-Maschinen, die mithilfe von programmierten Daten Holz und andere Materialien filigran und dreidimensional zuschneiden können. Mit ihnen haben der Tischler und seine Frau Janina Bessler vor Jahren ihre Existenz gerettet.
„Wie Phönix aus der Asche“: Ein Tischlerpaar aus dem Ruhrgebiet machte das Hobby zur Geschäftsidee
Die erste Maschine entstand 2016 aus einem Hobby heraus, das das Paar teilt: Modellflugzeuge. Um sich die Schmuckstücke ganz einfach selbst herzustellen, tüftelte Bessler damals in seinem Keller an der ersten Holzfräse. Nicht ganz ein Jahr dauerte es, dann war das Stück fertig und Janina Bessler nahm es in Betrieb.
Die Maschine lärmt, unter der Frässpindel sammeln sich kleine Haufen schwarzen Holzstaubs. Hinter dem Hügel kommen schließlich die Bauteile zum Vorschein. „Wie Phönix aus der Asche“, so beschreibt Bessler auch die Erfolgsgeschichte, die er dank der Holzfräsen erlebt.
Denn während die beiden damals im Keller mit dem ersten Prototyp arbeiteten, drohte über ihnen alles zusammenzubrechen. Ihre Wittener Tischlerei mit einst 13 Mitarbeitern stand vor dem Aus. Ein Bauträger, für den sie einen Auftrag übernehmen sollten, war insolvent gegangen. Auf Personal- und Materialkosten blieben sie sitzen, an Kapital standen nunmehr 16 Euro zur Verfügung. „Damals habe ich genau kalkuliert, wie viel ich am Tag arbeiten muss, um über die Runden zu kommen“, erinnert der Tischler.
Tischlerbetriebe in NRW nehmen seit Jahren ab
Besslers Geschichte spielt sich so oder so ähnlich seit Jahren immer häufiger in NRWs Tischlerbetrieben ab. Die Rechtsberatung des Fachverbands des Tischlerhandwerks NRW berichtet etwa von einer sinkenden Zahlungsmoral der Kundinnen und Kunden: Demnach suchten diese immer häufiger nach Mängeln, um Zahlungen hinauszuzögern oder zu mindern. So blieben Tischlerbetriebe – zumindest vorübergehend – auf Kosten sitzen.
Handwerk NRW dokumentiert die abnehmenden Zahlen von Tischlerbetrieben im Bundesland: Zwischen 2013 und 2023 sind sie um rund 13 Prozent auf 6.664 Betriebe geschrumpft, von Beginn bis Mitte 2024 mussten weitere 64 Betriebe schließen. Einen Grund dafür sieht Jens Südmeier, Pressesprecher des Tischler-Fachverbands, im Nachfolgemangel. Potenzielle Nachfolgerinnen und Nachfolger wollten wegen überbordender Bürokratie lieber ins Anstellungsverhältnis als in die Selbstständigkeit. So könnten sich insbesondere größere Betriebe ab sieben Mitarbeiter halten, kleinere würden immer häufiger verschwinden.
- Noch 100 freie Lehrstellen: Wie das Handwerk um Azubis wirbt
- Fachkräftemangel? Warum ein Handwerker dennoch Monteure entlässt
- Herne: Immer mehr Handwerksunternehmen werden aufgekauft
- Parkplätze für Handwerker: „Ich lasse es darauf ankommen“
Besslers Holzfräse kann auch Lautsprechergehäuse herstellen
Die funktionierende Holzfräse war für Janina und Burkhard Bessler wie ein Lichtblick, es lag nahe, sie zu kommerzialisieren. Die ersten Ideen waren Geschenkartikel oder Brillengestelle aus Holz. Erst als ein Interessent aus Jakarta zwischen Weihnachten und Neujahr 2016 schwer beeindruckt vor der Maschine im Keller stand, kam eine neue Idee: Wieso nicht die ganze Maschine verkaufen?
Beim nächsten Besuch brachte der Indonesier 13 Kollegen mit. Burkhard und Janina Bessler gaben etwas am Computer ein, drückten einen Knopf. Vor den Augen der 14 Besucherinnen und Besucher entstand innerhalb von elf Minuten ein Lautsprechergehäuse. Den ersten Kaufvertrag für zwei Holzfräse-Maschinen unterschrieben sie noch am selben Tag.
Tischlerbetrieb in Gelsenkirchen: Eine Holzfräse kreiert die andere
Mittlerweile haben die beiden 500 Stück verkauft, zur Feier gibt es demnächst 30 Fräsen im Gelsenkirchener Blau-Weiß. In der Revierstadt bezogen sie 2020 ihre Werkstatt. Dort reiht sich heute Holzfräse an Holzfräse. Zwei Exemplare, die Bessler liebevoll als Muttermaschinen bezeichnet, stehen gleich am Eingang. „Die Maschinen produzieren sich selbst“, erklärt der Tischler. Dafür hat er auf einem USB-Stick Daten hinterlegt. Speist er sie in die Muttermaschine ein, weiß diese, wie viele Bauteile mit welchen Maßen sie zuschneiden soll.
Eine der Maschinen bestehe durchschnittlich aus 20 Rohstoffplatten, für die die Muttermaschinen zehn Stunden brauchen. Danach werden sie von Hand geölt, zusammengebaut und in Betrieb genommen. Rund 15 Angestellte arbeiten am Prozess mit – Tischlerinnen, Maschinenbautechniker, Schlosser, Buchbinder und Elektrotechnikerinnen.
Von 25.000 bis 80.000 Euro: Besslers Holzfräse digitalisiert das Tischler-Handwerk
Wenn eine Maschine fertig ist, baut das Team sie zum Transport wieder auseinander. Das größte Exemplar maß 50 Quadratmeter. Die Preise für eine Holzfräse mit Software starten bei 25.000 Euro, für das teuerste Exemplar zahlen Interessenten 80.000 Euro. Besslers Kunden nutzen die Maschinen für die Herstellung von Instrumenten, Brillen, Bauteilen, Möbeln oder Treppen. Auch Stoffe könne die Maschine schneiden, dann verbaut der Tischler statt einer Frässpindel einfach ein Messer.
Die Maschinen entstehen fast komplett aus Holz. Nur für Schrauben und Leisten greift Bessler auf andere Materialien zurück. Daran hält der zum Maschinenbauer avancierte Tischler fest. „Vom Schreiner für den Schreiner“ sagt er gerne. Auf Messen wird er dafür laut eigener Aussage häufig belächelt. Eine Maschine aus Holz, das könne nicht funktionieren. Unter Tischler-Kollegen wissen seine Holzfräsen jedoch zu begeistern. „So kann Digitalisierung aussehen?“, soll einer von ihnen erstaunt gefragt haben.
Weitere Texte aus dem Ressort Wirtschaft finden Sie hier:
- Thyssenkrupp: Sorgen um historisches Großprojekt in Duisburg
- Billigmode: KiK-Chef Zahn: „Eine Riesensauerei, was da gerade passiert“
- Standort Ruhrgebiet: Verlässt Evonik Essen? Konzern erwägt Umzug
- HKM: Investor greift nach Thyssenkrupp-Tochter HKM: Was er vorhat
- Vonovia: Toter lag über zwei Jahre unbemerkt in seiner Wohnung in NRW