Berlin. Infrastruktur-Chef Berthold Huber erklärt im Gespräch, warum die Deutsche Bahn oft so unpünktlich ist – und gibt sich selbstkritisch.

Unpünktliche Züge, marode Bahnhöfe, kaputte Infrastruktur: Die Deutsche Bahn hat mit allerlei Problemen zu kämpfen. Und nun wird auch noch die Riedbahn, die meistbefahrene Bahnstrecke Deutschlands zwischen Mannheim und Frankfurt, für eine Generalsanierung komplett gesperrt. Berthold Huber, DB-Infrastrukturchef, erklärt im Interview, was nun auf Fahrgäste zukommt, warum diese Komplettsperrung nötig ist und in welchem Zustand sich die Bahn allgemein befindet.

Mit Ihrem spöttischen Song „Die Deutsche Bahn is so im Oasch“ haben die österreichischen Fans einen Hit im Netz erzielt. Tatsächlich steht die Deutsche Bahn vor der größten Sanierungswelle aller Zeiten. Haben die Fans recht?

Berthold Huber: Die EM hat offengelegt, was jeder weiß. Unsere Infrastruktur ist in einem schlechten, ja bedauernswerten Zustand. Sie ist viel zu alt und zu störanfällig. In den vergangenen Jahrzehnten wurde zu wenig erneuert, zu wenig Geld in die Sanierung gesteckt. Gleichzeitig ist sie zu voll – wir fahren viel mehr Verkehr als noch vor zehn Jahren. Die Infrastruktur bringt die Züge aus dem Takt und macht die Bahn viel schlechter, als sie sein könnte. Fakt ist aber auch: Wir haben allein im Fernverkehr rund zwölf Millionen Fahrgäste aus dem In- und Ausland während der EM an ihre Ziele gebracht. So viel Bahn gab es bei einem internationalen Fußballturnier noch nie.

Warum hat man die Infrastruktur so vernachlässigt?

Wir haben zu lange gedacht, die Infrastruktur hält ja noch. Insgesamt wurde zu wenig in sie investiert. Das ist das große Problem, in dem wir stecken. Denn die Infrastruktur ist das Fundament der Eisenbahn und wesentlich für die Qualität und Pünktlichkeit. Das Problem: Eine zu alte Infrastruktur fällt mit der Zeit immer öfter aus, geht exponentiell kaputt.

Wer ist für den schlechten Zustand verantwortlich?

Mit der Bahnreform hat sich die Politik das Ziel gesetzt, die Bahn möglichst aus sich selbst heraus zu finanzieren, ohne Bundesmittel. Die Entschuldung der Bahn war wichtiger als die Daseinsvorsorge der Eisenbahn als Verkehrsträger. Auch wir bei der Deutschen Bahn sind für den Zustand verantwortlich, keine Frage. Wir haben bei Entscheidungen immer wieder Kompromisse gemacht, die am Ende auch zulasten der Infrastrukturqualität gegangen sind. Ich gebe zu: Bis vor zwei Jahren, bevor ich Infrastrukturvorstand wurde, hätte auch ich nicht gedacht, dass das Eisenbahnsystem bereits so weit erodiert ist.

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Bis hierhin und nicht weiter: Fernzüge rollen zwar noch bis Frankfurt/Main, aber die Strecke bis Mannheim wird demnächst für fünf Monate komplett gesperrt. Es gibt zeitfressende Umleitungen. © Getty Images | Thomas Lohnes

Das Problem ist erkannt. Wie gehen Sie es an?

Um das Problem in den Griff zu bekommen, gehen wir diesmal radikal anders vor. Wir brauchen ein intaktes Netzt und bringen es jetzt mit dem Konzept der Generalsanierung grundlegend wieder in Ordnung. Wir starten mit einer der wichtigsten Strecken, der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim. Statt wie bisher kleinteilig immer mal wieder eine Weiche, einen Bahnübergang oder ein Stellwerk zu modernisieren, machen wir jetzt alle Arbeiten auf einmal: Die Strecke wird dazu für fünf Monate komplett gesperrt, rund um die Uhr gebaut. Auch die Bahnhöfe werden saniert. Es wird für 1,3 Milliarden Euro so gut wie alles neu gemacht, um dann für mindestens fünf Jahre Ruhe zu haben.

Warum hält die Sanierung nur fünf Jahre?

Fünf Jahre sind doch eine lange Zeit. Wir gehen davon aus, dass wir dort so lange keine Komponenten wie Weichen oder Oberleitungen mehr austauschen müssen. Danach werden wir die Strecke kontinuierlich auf hohem Niveau instand halten.

Warum beginnen Sie bei der 70 Kilometer langen Riedbahn? Fährt bald kein Zug mehr, weil alle 33.000 Schienenkilometer generalsaniert werden müssen?

Die Riedbahn liegt nicht nur im Herzen des Netzes, sondern gehört auch zu den Strecken mit den meisten Störungen. Über die Riedbahn fahren 20 Prozent aller Fernverkehrszüge und 25 Prozent aller Kunden des Fernverkehrs und sie ist Teil der wichtigsten Nord-Süd-Achse des europäischen Güterverkehrs. Wie bei einer Krankheit fangen wir dort an zu operieren, wo der Effekt am größten ist, und arbeiten uns dann über andere Strecken weiter. Nächstes Jahr folgen Hamburg–Berlin und Emmerich–Oberhausen. Bis 2031 sanieren wir insgesamt 41 dieser „Hauptschlagadern“, die für den Organismus der Eisenbahn besonders wichtig sind. Mit jeder Sanierung wird das Streckennetz nach und nach zuverlässiger und stabiler. Die Verbesserung kommt also nicht auf einen Schlag.

Warum sind Sie von dieser Strategie so überzeugt?

Weil wir so nicht weitermachen können. Deshalb ist die Generalsanierung der richtige Weg. Angenommen, Ihr Knie ist kaputt, Sie machen jahrelang Krankengymnastik, aber es wird nicht besser. Irgendwann müssen Sie operieren. Dann wird es kurz schlechter, aber Sie können danach wieder bergsteigen. Und wir sind an dem Punkt, wo wir operieren müssen. Dies tut kurz weh – und dann wird es besser.

Könnte die Bahn noch schneller besser werden, wenn der Staat deutlich mehr Milliarden zur Verfügung stellen würde?

Die Bahn erhält gerade so viele Mittel wie noch nie. Aber irgendwann stößt das Bauen an eine Grenze. Das Schienensystem verträgt nur eine bestimmte Anzahl an Baustellen, sonst droht es zu kollabieren. Lunge, Niere, Herz und Knie gleichzeitig zu operieren – das überlebt auch kein Mensch. Das Gleiche gilt für unser Netz. Bei zu vielen Baustellen fährt kein Zug mehr, und das wollen wir verhindern. Wichtig ist, dass wir uns auf die Investitionen verlassen können und langfristig Planungssicherheit haben. Das ist auch für die Bauindustrie wichtig, denn nur dann kann sie auch in neue Baumaschinen investieren.

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Die Bahn kommt immer unpünktlicher. Das will Infrastrukturchef Berthold Huber ändern. © DPA Images | Helmut Fricke

Zuletzt fuhren nur 65 Prozent aller Fernzüge pünktlich. Wann wird dies deutlich besser?

Unser Ziel ist es, dass wir ab 2030 bei der Pünktlichkeit im Fernverkehr wieder über 80 Prozent liegen. Bis dahin wollen wir Schritt für Schritt besser werden.

Ist eine fast 100-prozentige Pünktlichkeit wie in Japan möglich?

Eine fast 100-prozentige Pünktlichkeit ist in unserem Netz nicht möglich. Die Japaner fahren mit ihren Hochgeschwindigkeitszügen auf einem eigenen Netz, ohne potenzielle Störquellen wie Bahnübergänge oder viele Weichen. Unser Netz wird dagegen von Güterzügen, Regionalzügen und Fernzügen gleichzeitig genutzt. Hier entstehen immer wieder Wartezeiten.

Die Schweizer Bundesbahnen sind aber auch viel pünktlicher …

Das stimmt. Aber die Schweizer geben pro Kopf der Bevölkerung fünfmal so viel Geld für ihre Eisenbahn aus wie die Deutschen, und das seit Jahrzehnten. Sie haben früher angefangen, kontinuierlich in ihr Netz zu investieren, das müssen wir nachholen. Die Österreicher geben dreimal so viel aus. Sie können ihre Netze also besser instand halten und ausbauen. Zudem haben sie mehr viergleisige Strecken, während wir oft nur zweigleisig fahren.

Interaktive Bahn-Karte: So ist Deutschlands Schienennetz geschrumpft

Das deutsche Schienennetz hat die besten Zeiten hinter sich. Mitte der 50er-Jahre war es noch 14.000 Kilometer länger als heute. Wo Züge rollen und wo es einmal Bahnverbindungen gab – Jahr für Jahr von 1835 bis heute.

Was bedeutet die Sanierung für die Zugreisenden?

Bei der Riedbahn werden die Regionalzüge durch Busse ersetzt. Wir haben dafür 150 Busse neu gekauft und 400 Fahrer aus 14 Ländern eingestellt. Die Fernzüge fahren Umleitungen und brauchen etwa eine halbe Stunde länger. Also alle kommen weiter an ihre Ziele, das gilt auch für den Güterverkehr.

Erwarten Sie deutlich höhere Entschädigungsforderungen an Reisende wegen Zugverspätungen?

Nein. Alle verlängerten Fahrzeiten wurden in den Fahrplan eingearbeitet. Solange wir den Fahrplan einhalten, braucht es keine Entschädigungen.

Glauben Sie, dass die Bauarbeiten im Zeitplan bleiben?

Ich bin mir fast sicher, dass auf der Baustelle auch mal etwas schiefgeht. Aber klar ist auch: Wir wollen zum Fahrplanwechsel fertig sein. Wir wissen, dass wir unter verschärfter Beobachtung stehen. Keiner im Team möchte, dass gesagt wird, die Bahn hat es nicht hinbekommen. Hier ist es wie bei der EM: 84 Millionen Trainer schauen kritisch auf uns.