Siegen. Im Einzelhandel drohen tausende Insolvenzen, weil vom Staat versprochene Finanzhilfen immer noch nicht rechtzeitig ankommen.
Die Nerven liegen blank. Wundern darf das nicht. Die Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben viele Unternehmen über Nacht getroffen wie der Schlag. Jetzt, zehn Monate nach den ersten Schließungsverordnungen stehen Zehntausende Betriebe in Deutschland vor dem Aus. Im Handel bezifferte der Handelsverband HDE bereits im vergangenen Frühjahr die Zahl der potenziellen Insolvenzen auf bundesweit 50.000. „Der überwiegende Teil waren kerngesunde Unternehmen bis zum ersten Lockdown“, sagt Thomas Weissner, Geschäftsführender Gesellschafter von Leder Jaeger.
Ein Siegener Unternehmen für Leder- und Reisemode mit mehr als 140 Jahren Tradition. Acht Filialen in sieben Städten. Natürlich Siegen, aber auch Lüdenscheid oder Düsseldorf und Köln. Auch Onlinehandel. Thomas Weissner ist seine Gemütslage anzumerken noch bevor er sie ausspricht: „Wut, Ärger und Verzweiflung.“
Ein gestandener, ehrenwerter Unternehmer, der seine Verzweiflung tatsächlich kaum noch verbergen kann. Und die Wut darüber, dass der Staat in den vergangenen Monaten am laufenden Band Versprechungen gemacht habe, ohne sie adäquat einzuhalten. Weissner schwankt hin und her. „Ich möchte nicht in der Situation der Politiker stecken.“ Nur haben sie aus seiner Sicht leider auch viel falsch gemacht, keine „deutlich erkennbare Strategie“ bei der Bewältigung der Corona-Pandemie und ihrer weitreichenden Folgen.
Willkürliche Entscheidungen
„Ich bin kein Aluhutträger“, wirft der Geschäftsmann ein. Allerdings erscheint ihm so manche Entscheidung in den vergangenen Monaten willkürlich und ohne ausreichende Legitimation getroffen worden zu sein. „Die Zahl von 30 Prozent Umsatzeinbuße ist für den Handel praxisfern. Da sind sie schon mit minus 10 bis 15 Prozent pleite!“
Mit seiner zunehmenden Skepsis steht Weissner nicht allein da. Carmen Kikillus ist Inhaberin des Damenmodengeschäfts „Fashion Now“ in Freudenberg. Seit mehr als zwanzig Jahren berät sie mit Freude ihre Kundinnen bei der Wahl exquisiter Kleidung. Als sie ihr Geschäft im vergangenen Frühjahr das erste Mal von heute auf morgen schließen musste, war sie froh über die angekündigte Soforthilfe. 9000 Euro beantragte und bekam sie zur Unterstützung in diesem Notfall. Wie viele Unternehmer suchte sie mit Kreativität nach Möglichkeiten, in geringem Umfang weiter ihrem Geschäft nachzugehen, vermarktete ihre Waren über Social-Media-Kanäle. Wie sich im November herausstellte, mit Blick auf die staatliche Unterstützung ein Fehler.
Weil sie Umsatz machte, muss sie die Soforthilfe zurückzahlen. Mode, das weiß Kikillus wie Weissner, ist ein Risiko- weil Saisongeschäft. Frühjahrsware wird schon Monate vorher bestellt – und innerhalb weniger Wochen zum Ladenhüter. „Auch die Lieferanten sind nicht mehr so kulant wie im Frühjahr“, musste Kikillus erfahren. Sie hat damit gerechnet, dass die Pandemie bald vorbei sein wird. Hat festliche Kleidung geordert und bräuchte, wenn es so weiter geht, nun eher Joggjeans und Schlabbershirts. Statt auf Überbrückungshilfe zu hoffen, die sie wahrscheinlich bekäme, versucht sie einen KfW-Kredit zu erhalten, um ihre Liquidität aufzustocken und überhaupt noch ruhigen Gewissens bestellen zu können.
Das Saisongeschäft verpasst hat auch Juwelier Walter Linschmann aus Siegen-Eiserfeld. „Uhren, Schmuck, Porzellan. 30 bis 40 Prozent des Jahresumsatzes machen wir im Weihnachtsgeschäft. Die Schließung ab dem 14. Dezember hat weh getan!“ Auch Linschmann ist auf Ware sitzengeblieben. „Bundeswirtschaftsminister Altmaier hat unbürokratische Hilfe versprochen. Nichts davon ist geschehen“, resümiert der Seniorchef, der vor einem Jahr das Geschäft an seinen Sohn abgegeben hat. Nun hoffen Linschmanns auf die Überbrückungshilfe III.
Um die zu beantragen, ist aber bis heute nicht einmal die Software geschrieben, musste Landeswirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) am Freitag einräumen. Bei allem Bemühen der Politik sind dies die Nachrichten, die das Vertrauen mehr und mehr erschüttern. „Auch Einzelhandel ist systemrelevant“, fordert Thomas Weissner mehr Weitsicht. Mit tausenden Insolvenzen droht nicht nur der stationäre Handel in Ortskernen wegzubrechen. Letztlich droht eine Kettenreaktion bis hin zu Rentenfonds, deren Basis Immobilienanlagen in den Innenstädten seien.
Strukturen brechen weg
Kommt nicht in den nächsten Tagen ausreichend Geld bei den Unternehmen an, werden Strukturen massiv wegbrechen. Allein im Bezirk der Industrie- und Handelskammer Siegen sind von rund 5000 Unternehmen im Handel nach Schätzung von Hauptgeschäftsführer Klaus Gräbener rund 4000 betroffen: „Hilfen, die nicht helfen, sind keine Hilfen“, kritisiert auch er.
Letzte Hoffnung Überbrückungshilfe III
Viele Unternehmen hoffen jetzt auf die Überbrückungshilfe III, die für Ausfälle von Januar bis Juni und zum Teil auch für November und Dezember 2020 gedacht ist.
Allerdings kann die Überbrückungshilfe III noch immer nicht beantragt werden, weil die Software noch fehlt. Frühestens im Februar dürften so Anträge überhaupt beim Bund eingehen können.
Die maximale monatliche Fördersumme soll auf bis zu 1,5 Millionen Euro pro Unternehmen erhöht werden. Modeunternehmen sollen auch Ware geltend machen können, auf der sie sitzen geblieben sind.