Essen. Ostseepipeline wird zum Druckmittel gegen Russland. Doch ein Aus träfe auch die deutschen Verbraucher und würde den Kohleausstieg erschweren.

Gasleitungen von Russland nach Deutschland stehen in der Kritik, seit die Sowjets 1970 in Essen den ersten Röhrenvertrag mit Mannesmann besiegelten. Die Leitungen fertigte dasselbe Mülheimer Werk, das ein halbes Jahrhundert später auch die Großrohre für Nordstream 2 bauen sollte. Sie liegen nun unter der Ostsee, sind bereits mit Erdgas befüllt, das darauf wartet, im vorpommerschen Seebad Lubmin auf deutsches Festland strömen zu dürfen.

Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Nordstream 2 ist zum wichtigsten politischen Druckmittel gegen Russland in der Ukraine-Krise geworden. Die Interessen sind so vielfältig wie die Folgen, die ein Einfrieren der Pipeline hätte. Es geht um Geld, Einfluss und letztlich auch die deutsche Energiewende. Und die wird vor allem aus NRW gesteuert. Der Essener Dax-Konzern RWE und die frühere Eon-Tochter Uniper aus Düsseldorf hören derzeit genau hin, wenn Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) über Nordstream 2 reden.

RWE-Chef: Eskalation in Ukraine würde höhere Preise bedeuten

Letztere war schon gegen die Inbetriebnahme der zweiten Ostseepipeline, bevor sie Außenministerin wurde, und ist es jetzt erst recht. Scholz dagegen hat Nordstream 2 bis vor wenigen Wochen als völlig unpolitisches, rein privatwirtschaftliches Projekt bezeichnet, jüngst aber seine Tonlage entscheidend geändert. Sollten die Russen in der Ukraine einmarschieren, sei „alles zu diskutieren“, auch wenn es „hohe Kosten haben wird“, womit er das von vielen Bündnispartnern, allen voran den USA geforderte Aus für Nordstream 2 gemeint hat.

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„Wenn man das Schlimmste verhindern will, sollte man nicht das Schlimmste herbeireden“, sagt Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).
Von Michael Backfisch, Jörg Quoos und Sébastien Vannier

Noch höhere Kosten, davon ist RWE-Chef Markus Krebber überzeugt, entstünden bei einer Zuspitzung in der Ukraine vor allem für die ohnehin gebeutelten Verbraucher in Deutschland. „Wenn der Konflikt weiter eskaliert, in welcher Form auch immer, wird das auf jeden Fall höhere Preise bedeuten“, sagte er der FAZ. Womit Krebber das von vielen befürchtete Szenario durchspielt, dass Russland im Kriegsfall alle Gashähne nach Euro abdrehen könnte. „Ein Komplettausfall wäre nur für sehr kurze Zeit überbrückbar. Vielleicht einige Wochen“, betont Krebber.

Deutschland ist abhängig von russischem Gas

Denn Deutschland ist seit Jahrzehnten abhängig von russischem Gas, es deckt hierzulande weit mehr als die Hälfte des Verbrauchs. Russlands Präsident Putin weiß darum, er sitzt an einem sehr langen Hebel. Doch bisher hat er stets vermieden, ihn umzulegen, denn die Abhängigkeit beruht auf Gegenseitigkeit. „Wir brauchen russisches Erdgas, und Russland braucht Devisen“, bringt es RWE-Chef Krebber auf den Punkt.

Dass auf die Lieferungen stets Verlass war, wird in allen Energiekonzernen stets betont. „Russland hat seine langfristigen Verträge immer aufs Komma erfüllt, auch während des Kalten Krieges und ebenso in der aktuellen Ukraine-Krise“, sagte ein Uniper-Sprecher unserer Zeitung.

Hypernervöse Märkte und halbleere Speicher

Für die zuletzt explodierten Gaspreise machen Marktbeobachter trotzdem Russland mitverantwortlich. Denn über die langfristigen Verträge hinaus kam kaum noch Gas aus Russland nach Europa, was im Zusammenspiel mit halbleeren Speichern, einer anziehenden Nachfrage und darauf hypernervös reagierenden Rohstoffmärkten zu irrwitzigen Preissteigerungen führte. Eine Absage an die fertig gebaute Nordstream 2 könnte vor allem die Märkte noch mehr beunruhigen und so die Preise weiter treiben.

Zwingend gebraucht wird die Leitung nicht, um die deutsche Gasversorgung zu sichern, dafür würden die bestehenden Ost-West-Leitungen über die Ukraine (Transgas), über Weißrussland und Polen (Jamal) sowie durch die Ostsee (Nordstream 1) reichen. „Wenn Sie sich die Mengenbilanz angucken und welche Pipelines schon verfügbar sind, braucht man Nordstream 2 vermutlich nicht unbedingt“, meint auch RWE-Chef Krebber. Dass die Nordstream-Pipeline die durch die Ukraine überflüssig machen könnte, gilt in der Politik als Drohmittel Putins gegen die Ukraine.

Uniper hat 950 Millionen Euro in Nordstream investiert

Den beteiligten Unternehmen gilt die direkte Verbindung von Russland nach Deutschland vor allem als kostengünstig. Aus Sicht von Uniper sei es wichtig, „möglichst viele Gas-Pipelines nach Europa“ zur Verfügung zu haben, der Weg durch die Ostsee sei für Russland der kürzeste und deshalb besonders effizient, betont das Düsseldorfer Unternehmen. Nordstream 2 sei von großer energiewirtschaftlicher Bedeutung für Deutschland. Uniper gehört mit Wintershall, Shell, Engie und OMV zu den fünf europäischen Finanzinvestoren, die sich zur Hälfte an den Baukosten beteiligt haben. Die andere Hälfte trug der russische Gazprom-Konzern, auf den Putin direkten Einfluss hat. Als alleinige Eigentümerin hätte Gazprom am meisten zu verlieren.

Uniper sei als Investor über seine finanzielle Beteiligung am Bau von Nordstream 2 betroffen. Die fertige Pipeline hat knapp zehn Milliarden Euro gekostet, Uniper 950 Millionen Euro dazu beigetragen. Könne die Leitung aufgrund einer politischen Entscheidung nicht genutzt werden, ließ Uniper offen, ob es die Investitionen zurückerstattet bekomme.

Ampel setzt auf neue Gaskraftwerke

Diesen Winter, darin sind sich fast alle Experten einig, kann Deutschland auch ohne russisches Gas überstehen, andere Bezugsquellen und die Speicher reichen dafür aus – aber nicht viel weiter. Die ohnehin hohen Preise würde das mithin weiter anheizen. Mittelfristig stellt sich aber die Frage, wie sich eine Abkehr von russischem Gas mit der deutschen Energiewende vertrüge. Die Ampel-Koalition setzt beim Umstieg auf eine klimaneutrale Stromerzeugung bewusst auf Gaskraftwerke als Brückentechnologie. Bis 2030 soll Deutschland seine Gaskraft-Kapazitäten in etwa verdoppeln, um die Kohle als Grundlaststrom-Säule zu ersetzen.

Die Frage nach der bezahlbaren Beschaffung wird in den kommenden Jahren demnach noch wichtiger, und die oft genannte Alternative von Flüssiggas aus den USA ist langfristig die teurere und umweltschädlichere. RWE-Chef Krebber rät dazu, eine staatliche Gas-Reserve anzulegen, betont aber auch: „In der Beurteilung von Nordstream 2 sollten wir uns in Deutschland ganz besonders der Bedeutung bewusst werden, die Erdgas für unser Energiesystem hat und noch lange haben wird“, sagte er der FAZ. Nach Atom- und Kohleausstieg werde die Stromversorgung so lange am Gas hängen, bis genügend grüner Wasserstoff zur Verfügung stehe.

Hoher Gaspreis sorgt aktuell für mehr Kohlestrom

Die aktuelle Erdgasverteuerung trifft neben den Verbrauchern auch die Wirtschaft hart. Energieintensive Industrien, etwa Aluhütten oder Düngemittelhersteller, haben zwischenzeitlich sogar ihre Produktion gedrosselt, weil Gas und Strom zu teuer wurden. Das gilt auch für die Stromerzeuger. Erdgas zu verfeuern, lohnt derzeit kaum, weshalb wieder mehr Kohlestrom erzeugt wird. Nach der Windflaute im vergangenen Jahr ist es derzeit der hohe Gaspreis, der die politisch gewollte Abkehr von der Kohle bremst.

Bereits 2021 hat der Erdgasanteil am deutschen Strommix nach Daten des Branchenverbands BDEW um rund sechs Prozent abgenommen, während Braun- und Steinkohle knapp 21 Prozent zulegten. Der Anteil aller Erneuerbaren an der Bruttostromerzeugung sank um vier Prozentpunkte auf rund 41 Prozent. Im Januar, das zeigen die Livedaten der Bundesnetzagentur, wird deutlich weniger Strom aus Gaskraftwerken ins Netz eingespeist als in der kalten Jahreszeit üblich.

Warum die Ampel im Kampf ums Gas einen Spagat machen muss

Uniper sprach auf Nachfrage von einer „guten Auslastung“ sowohl seiner Steinkohle- als auch der Gaskraftwerke. RWE erklärte dagegen, Gas komme wegen der hohen Beschaffungspreise derzeit in der Einsatzreihenfolge der Kraftwerke als letztes zum Zug. Für diesen Januar zeichne sich ab, „dass die Auslastung unserer deutschen Gas-Kraftwerke bislang wie Ende letzten Jahres relativ gering ausfällt“.

Der kalte Krieg ums Gas sorgt demnach aktuell für eine Renaissance der Kohle – und damit auch in Deutschland für einen Rückschritt im Kampf gegen den Klimawandel. Das macht den diplomatischen Umgang der Bundesregierung mit Russland nicht einfacher. Vor allem für die grünen Kabinettsmitglieder ein Spagat: Während Wirtschaftsminister Habeck den Bau neuer Gaskraftwerke anschieben muss, nutzt Außenministerin Baerbock Nordstream 2 als Druckmittel gegen Russland. Sich weniger abhängig von russischem Gas zu machen, gilt als Zauberformel zur Lösung des Problems. Dies freilich seit Jahrzehnten, in denen diese Abhängigkeit nicht gesunken, sondern weiter gestiegen ist.