Essen. In NRW müssen Heimbewohner im Schnitt 2248 Euro selbst zahlen, immer mehr brauchen Sozialhilfe. Experten fordern eine Deckelung des Eigenanteils.
Als Norbert Blüm 1995 die Pflegeversicherung einführte, verfolgte er hauptsächlich ein Ziel: die Bewohner von Altenheimen aus der Armutsfalle zu befreien. Denn wer seinerzeit im Heim lebte, war meist auch ein Fall fürs Sozialamt. Die Kosten für das Zimmer, die Verpflegung und vor allem für die Pflege konnten die wenigsten von ihrer Rente bezahlen, weshalb drei von vier Bewohnern auf Sozialhilfe angewiesen waren. Das änderte Blüm schlagartig: Mit Einführung der Pflegeversicherung sank die Sozialhilfequote in den Heimen unter 20 Prozent. Da sie nur als Teilkasko-Absicherung konzipiert war, waren noch einige vom Sozialamt abhängig, aber immerhin nicht mehr die Mehrheit.
Wenn die Rente nicht mehr fürs Heim reicht
Ein Vierteljahrhundert später droht Blüms Vorhaben zu scheitern: Weil die Heime teurer werden und ihre Bewohner immer mehr selbst zahlen müssen, schnappt die Armutsfalle wieder zu. In NRW mussten die Sozialämter 2017 für 37 Prozent der Bewohner einspringen. Weil deren Vermögen aufgebraucht ist, die Rente nicht reicht und die Angehörige nicht helfen können. Und weil die kommenden Rentnerjahrgänge eher weniger Alterseinkünfte zu erwarten haben als die aktuellen, die Pflege gleichwohl immer teurer wird, zeigt die Tendenz weiter eindeutig nach oben.
Der BKK-Landesverband Nordwest hat die Entwicklung von 2009 bis 2017 (jüngste Daten) untersucht. Die Zahl der Menschen, die in NRW in Pflegeheimen leben, ist um ein gutes Zehntel auf 169.000 gestiegen. Sie zahlen im Schnitt 2248 Euro als Eigenanteil ans Heim – das sind 470 Euro mehr als der bundesweite Durchschnitt.
Weit überproportional gestiegen ist vor allem der Eigenanteil an den Pflegekosten. Heimbewohner in NRW mussten sich 2017 im Schnitt mit 758 Euro daran beteiligen, 2009 war es noch ein Drittel weniger. Zum Vergleich: Bundesweit stieg der Eigenanteil an den Pflegekosten nur um ein Viertel an, die Pflegekassen erhöhten ihre Leistungen im selben Zeitraum nur um 17 Prozent. Die pflegebedürftigen Menschen trugen demnach in NRW die Kostensteigerungen zum größten Teil allein.
Teurer wurden in NRW-Heimen auch die Kosten für Unterkunft und Verpflegung – um 16 Prozent auf 970 Euro im Monat. Hinzu kommen aktuell 520 Euro Investitionskosten – das ist eine Umlage der Bewohner für Modernisierungen und Anschaffungen ihrer Einrichtungen. Dagegen ist die so genannte „Standardrente“ im selben Zeitraum nur um zehn Prozent angehoben worden.
„Nicht immer nur mehr Geld ins System“
Dirk Janssen, stellvertretender Vorstand des BKK-Landesverbands, hält höhere Kassenbeiträge oder Steuerzuschüsse für unvermeidbar, aber nicht für die alleinige Lösung. Es müssten auch unnötige Kosten vermieden werden. „Statt nur immer mehr Geld ins System zu stecken, muss dringend die teure und meist für die Betroffenen mit erheblichem Leid verbundene Fehlversorgung beseitigt werden“, sagte er dieser Zeitung. So würden laut Experten „viel zu viele Menschen in Deutschland dauerhaft künstlich beatmet“. Würden durch eine bessere Versorgung die Hälfte dieser rund um die Uhr betreuten Menschen von der Maschine unabhängig, würden rund 9500 Fachkräfte mehr für die nicht-intensive Pflege zur Verfügung stehen. „Dies wäre bereits ein Großteil der von der Bundesregierung angestrebten zusätzlichen 13.000 Pflegekräfte“, so Janssen. Wichtiger werde zudem eine bessere Pflegeprävention, damit die Menschen länger daheim leben könnten.
Um die Betroffenen selbst zu schonen, fordert der Kassenmanager, ihren Eigenanteil zu begrenzen. Der Sozialverband VdK schlägt ebenfalls einen Deckel vor, Pflegeexpertin Manuela Anacker wünscht sich „eine bundesweit einheitliche“ Höchstgrenze. Was für Heimbewohner in NRW eine deutliche Entlastung bedeuten würde, da sie derzeit am meisten selbst zahlen müssen. Die Frage bleibt aber, wer dann die steigenden Kosten trägt.
Erst das Vermögen, dann die Kinder, dann das Sozialamt
Bisher passiert zigtausendfach Folgendes: Die Senioren müssen zunächst ihr Erspartes aufbrauchen, womöglich gar ihr Haus verkaufen, ihnen bleibt nur ein Schonvermögen von 5000 Euro. Als nächstes haften ihre Partner und Kinder für die Heimkosten. Ihre Freibeträge richten sich nach der Düsseldorfer Tabelle, die sonst den Kindesunterhalt regelt. Reichen die Einkünfte der Betroffenen und ihrer Kinder nicht aus, springt das Sozialamt ein.
Da die Bundesregierung plant, Kinder künftig erst ab einem Jahreseinkommen von 100.000 heranzuziehen, drohen künftig deutlich mehr Kosten auf die Kommunen abgewälzt zu werden. Die begrüßen die Entlastung der Angehörigen sogar. „Allerdings werden dadurch erhebliche Kosten auf die Kommunen als Sozialhilfeträger zukommen. Diese Mehrbelastungen der Kommunen müssen vollständig ausgeglichen werden“, fordert Verena Göppert, die stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Städtetags.
Bewohner fragen Pfleger nach Zigaretten
Hilft das Sozialamt, steht den Bewohnern nur noch ein monatliches Taschengeld von derzeit 114 Euro zu. Viele halten das für viel zu niedrig, Pflegekräfte werden nicht selten von Rauchern nach Zigaretten gefragt, weil sie sich keine mehr kaufen können. Das hört etwa Markus Sutorius vom Pflegeschutzbund Biva häufig. Der Rechtsexperte fordert eine Anhebung des Taschengeldes. „Wer raucht, mal ein Gläschen Wein trinken oder ins Café gehen möchte, kommt damit vorne und hinten nicht aus“, sagt er.