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Ausgerechnet der marktliberale Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) fordert höhere Löhne. Und das hat gute Gründe – besonders der private Konsum soll dadurch anspringen.

Wirtschaftsforscher lieben Verkehrsmetaphern. Die Konjunktur nimmt Fahrt auf, wird abgewürgt, es gibt Lokomotiven und Bremser. Insofern passt es ins Bild, dass Siemens die neuen Züge für den Eurotunnel bauen darf. Deutschland zieht Europa wieder mit, die Wirtschaft brummt. Aber warum hat die größte Volkswirtschaft zwischen Atlantik und Schwarzem Meer die Krise am besten weggesteckt? Und was muss getan werden, damit aus dem Quartals-Wirtschaftswunder ein Dauer-Aufschwung wird?

Deutschland wird 2010 laut IWF ein Wachstum von 3,3 Prozent verzeichnen

Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht Deutschland unter den großen Industrienationen ganz vorn. Er erwartet für dieses Jahr ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts um 3,3 Prozent – doppelt so viel wie in England und Frankreich. Selbst die USA hinken trotz ihrer gigantischen Konjunkturprogramme mit 2,6 Prozent hinterher.

Es ist vor allem der Export, der Deutschland aus der Krise katapultiert. Maschinen, Chemieprodukte und Autos made in Germany werden aus aller Welt geordert. Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien planen ihren Boom mit deutscher Hochtechnologie. Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht. Denn das wird nicht so bleiben. Erstens, weil die weltweite Nachfrage sich abschwächt; zweitens, weil aufstrebende Länder künftig mehr dieser Güter selbst herstellen. Innerhalb Europas erzeugt der Exportüberschuss zudem immer mehr Neid. Die Nachbarn argwöhnen, Deutschland wachse auf Kosten seiner Partner.

Die Binnennachfrage soll gestärkt werden

Deshalb entdecken dieser Ta­­ge selbst Marktliberale ihr Herz für die Inlandsnachfrage. Wenn die Welt bald weniger in Deutschland kauft, sollen die Deutschen selbst einspringen. Der Ökonom Hans-Werner Sinn, der den Standort Deutschland wegen angeblich zu hoher Löhne stets skeptisch gesehen hat, glaubt plötzlich, dass die deutsche Industrie wieder mehr im eigenen Land investiert und sich ihre Güter gegenseitig verkauft.

Nun schwört auch noch der marktliberale Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) seinem Mantra der Lohnzurückhaltung ab. Warnte er noch vor der Stahltarifrunde, zu hohe Löhne würden den Aufschwung abwürgen, nennt er nun den Abschluss von 3,6 Prozent ein Vorbild für andere Branchen. Damit gibt Brüderle eine neue Richtung der Regierung vor. Die geht grob umrissen so: Vom Wachstum der Exportindustrie sollen die Arbeitnehmer profitieren, auf dass sie mehr Geld ausgeben und den Konsum anschieben. Idealvorstellung ist der selbstbefeuerte Aufschwung, der Deutschland unab­hängiger vom Export macht. Das gleiche Ziel haben mehr öffentliche Investitionen, wie sie das Finanzministerium verspricht.

Der Betrachter hält kurz inne und stellt fest: Die Stärkung der Binnennachfrage hat es dank der Krise von der so­zialistischen Kampfparole zum Motto einer konservativ-liberalen Regierung geschafft.

Das Jobwunder

Dazu hat sicher der zweite entscheidende Faktor für den Aufschwung beigetragen: Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich durch das weltweit einzigartige Kurzarbeits-Modell sehr robust gezeigt. Die EU-Statistik aus August führt Deutschland mit 6,9 Prozent Arbeitslosen (nach Euronorm) unter den fünf Besten. Der Durchschnitt liegt bei 9,6 Prozent, Frankreich über zehn, Spanien sogar über 20 Prozent.

Was viel wichtiger ist als die bloße Zahl: Dadurch, dass die meisten Menschen ihre Arbeit behalten oder sogar eine neue gefunden haben, blieb der Kon­sum selbst im Krisenjahr 2009 stabil und zieht derzeit an. Die Kaufkraft der Bürger als Krisenpuffer – noch eine Entdeckung der Liberalen.