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Atomkraft, Strommasten, Windräder: Ein breiter Bürgerprotest bedroht Großprojekte von Industrie und Politik. Der „Aufstand der braven Bürger“ überrollt Volksparteien und Gewerkschaften. Spurensuche in einer Protest-Republik.

Stuttgart 21, Kohlekraftwerke, Atomkraft: Der bürgerliche Protest ergreift das Land. Wie selten zuvor mischt sich der Deutsche ein, kippt politische Beschlüsse und stemmt sich gegen Großprojekte von Industrie und Politik. Der „Aufstand der braven Bürger“, er überrollt Volksparteien und Gewerkschaften. Spurensuche in einer Protest-Republik, am Beispiel der Energiepolitik.

Berlin, Kanzleramt. Die Nacht zum 6. September wurde durchverhandelt, nun steht das schwarz-gelbe Energiekonzept, das eine Verlängerung der Laufzeit deutscher Atomkraftwerke vorsieht. Eine „Revolution“ nennt Kanzlerin Angela Merkel ihren Masterplan für ein neues Energiezeitalter. Doch es ist ein Umsturz von oben und eine Entscheidung unter Vorbehalt: Die Anti-Atomkraftbewegung und die Opposition werden Verfassungsklage gegen die Laufzeitverlängerung einreichen. Am Wochenende protestierten Zehntausende gegen die Atompolitik der Regierung. Merkels Energiewende aber stößt in vielen anderen Sektoren quer durchs Land auf Widerstand – vom Kampf gegen Windräder bis hin zum Bürgerbegehren gegen Biogasanlagen.

Raesfeld bei Borken. Hier leben Bürger wie Berthold Fasselt, der als Mitglied einer Bürgerinitiative darum kämpft, nicht zwischen hohen Strommasten leben zu müssen. Die Raesfelder wohnen und arbeiten neben einer Stromtrasse, die der Energiekonzern RWE aufrüsten will. Die Freilandleitung zwischen Wesel am Niederrhein und Diele soll künftig statt 220 Kilovolt 380 Kilovolt transportieren. Die Bürgerinitiativen, die sich unter dem Namen Pro Erdkabel NRW zusammengeschlossen haben, fürchten Elektrosmog und andere Einflüsse, die sie in Nachbarschaft einer Höchstspannungsleitung vermuten. Die Forderung: Statt neue Überlandleitungen zu errichten, sollen die Kabel unter der Erde verlegt werden. Für die RWE-Tochter Amprion, die das Netz betreibt, ist das ein riesiges Kostenproblem. Fünf bis achtmal teurer ist ein Kilometer Erdkabel. „Schon ein Kilometer Freilandleitung kostet 1,2 Millionen Euro“, sagt Amprion-Sprecher Andreas Preuß.

Bundesweit sind Bürgerinitiativen wie die in Raesfeld aus dem Boden geschossen. Deutschlands Vision vom Zeitalter der neuen Energien aber ist ohne einen massiven Ausbau des Stromnetzes nicht möglich. Die Deutsche Energieagentur hat ausgerechnet, dass allein 850 Kilometer Höchstspannungsleitungen neu gebaut werden müssen, damit der Öko-Strom aus den Windparks in Nord- und Ostsee in den Süden Deutschlands transportiert werden kann. Modernisierung ja, aber nicht vor meiner Haustür?

Südtondern im Norden Schleswig-Holsteins. Hierhin wollte die RWE-Tochter Dea Kohlendioxid aus dem 530 Kilometer entfernten Braunkohlekraftwerk in Köln-Hürth pumpen. Doch auch hier rollt der Protest: „Stoppt das CO2-Endlager“, skandiert die gleichnamige Bürgerinitiative.

Es ist die Nabelschnur der Kohleverstromung: Das klimaschädliche Kohlendioxid soll aus den Abgasen abgeschieden und unterirdisch in Gesteinsschichten gespeichert werden. Die so genannte CCS-Technologie will die Regierung bis 2020 erproben. Vor Ort aber denkt man anders: An den möglichen Speicherstätten in Schleswig-Holstein, Brandenburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt hat sich der Protest formiert: „Kein Fußbreit auf unserer Land“, hallt es den Erkundungstrupps der Energiekonzerne entgegen. Auch an Rhein und Ruhr hat der mögliche Bau von Kohlendioxid-Pipelines die Öffentlichkeit elektrisiert.

Deutschland gegen alles? Michael Vassiliadis, Chef der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie, warnt vor einer wachsenden Industriefeindlichkeit. Anfang des Jahres forderte er im Gespräch mit dieser Zeitung, „die Beteiligungsrechte der Polit-Profi-Verbände“ zu beschränken. Für Prof. Manfred Fischedick, Vizepräsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie, hat indes die Politik versagt: „Es war ein großer Fehler, über das Energiekonzept zu entscheiden, ohne zuvor den gesellschaftlichen Diskurs gesucht zu haben. Wer Rückhalt für seine Politik haben will, muss zuvor die ideologischen Barrieren beiseite räumen.“