Essen. Der Verein hinter der deutschen Ausgabe von Wikipedia braucht einen neuen Chef: Arne Klempert verlässt Wikimedia. Im Interview mit DerWesten wirft er einen Blick zurück und prophezeit der freien Enzyklopädie Wikipedia in Zukunft einen harten Kampf um Qualität und gegen Manipulationen.

In Ihrem Blog „recentchanges.de“ schreiben Sie, dass Sie eine neue berufliche Herausforderung suchen. Warum?

Klempert: Mein Vertrag als Geschäftsführer läuft Ende September aus. Daher bin ich auf der Suche nach einer neuen Herausforderung, die gerne wieder im Bereich Online-Medien oder Communities sein darf. Nach fünf Jahren, die ich für Wikimedia in unterschiedlichen Funktionen tätig war, war es Zeit für einen Wechsel. Ich sehe meine Aufbauarbeit als erledigt an, der von mir mitbegründete Verein Wikimedia Deutschland steht heute auf einem soliden Fundament.

Nicht jeder kennt Wikimedia. Sagen Sie doch bitte kurz, was Sinn und Zweck des Vereins ist.

Der Verein Wikimedia Deutschland hat sich aus dem Bedürfnis einiger aktiver Wikipedianer heraus gegründet, in Deutschland eine Organisationsstruktur zu haben. Als die Wikipedia Anfang 2004 der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, haben wir uns gesagt: Wenn das „System Wikipedia“ weiter so erfolgreich sein soll, werden größere Mengen Geld, aber auch ein organisatorischer Rahmen benötigt – zum Beispiel für Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen und nicht zuletzt für den Ausbau der technischen Infrastruktur. Zusammengefasst: Mit dem Verein Wikimedia Deutschland sollte das virtuelle Projekt Wikipedia um eine Präsenz in der realen Welt ergänzt werden.

Was ist seit der Gründung passiert?

Der Verein wurde 2004 gegründet - als kleine und rein ehrenamtlich arbeitende Organisation. In vier Jahren haben wir Wikimedia zu stattlicher Größe gebracht. Wir haben eine Geschäftsstelle aufgebaut und damit die Vereinsarbeit auf professionelle Füße gestellt. Im Moment zählen wir rund 400 Mitglieder und konnten im vergangenen Jahr knapp 300.000 Euro an Spendengeldern einnehmen.Wikimedia Deutschland ist damit die mit großem Abstand erfolgreichste nationale Sektion der Wikimedia Foundation.

Welche Meilensteine konnte Wikimedia seit 2004 setzen?

Wir haben 2005 die erste vollständige Ausgabe der Wikipedia auf DVD zusammen mit einem Berliner Verlag möglich gemacht . Diese DVD-Ausgabe ist auch heute noch weltweit einmalig. Und wir haben das erste öffentlich geförderte Projekt zur Verbesserung von Wikipedia-Inhalten mit auf den Weg gebracht. Seit letztem Jahr läuft ein Projekt, finanziert aus Mitteln des Verbraucherministeriums, das zum Ziel hat, den Themenbereich „Nachwachsende Rohstoffe“ in der deutschsprachigen Wikipedia auf Vordermann zu bringen. Mit der Wikipedia Academy haben wir außerdem eine erfolgreiche Veranstaltungsreihe etabliert, mit der wir seit 2006 den Dialog zwischen Fachwissenschaftlern und der Wikipedia-Community fördern.

Was hätten Sie besser machen können?

Im Nachhinein ist man natürlich immer klüger und sicher hätte man das eine oder andere auch besser machen können. Aber insgesamt denke ich, dass wir als Verein bisher einen ganz guten Job gemacht haben. Natürlich ist ein Community-Projekt wie die Wikipedia nur schwer planbar. Das heißt, es passieren immer wieder unvorgesehene Dinge, auch weil dieses Projekt so wahnsinnig offen ist und sich jeglicher Steuerung entzieht.

Was meinen Sie?

Zur Person

Arne Klempert (Jahrgang 1972) ist im Oktober 2003 zur freien Enzyklopädie Wikipedia gestoßen und engagiert sich seither für Freies Wissen.

Von der Gründung des Vereins im Juni 2004 bis August 2006 war er Zweiter Vorsitzender von Wikimedia Deutschland, seither ist er Geschäftsführer des Vereins. Unter anderem war er Mitorganisator der ersten internationalen Wikimedia-Konferenz Wikimania 2005 und gehört seit 2006 als beratendes Mitglied dem Chapters-Committee der Wikimedia Foundation an. Seine Schwerpunkte: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Sponsoring sowie organisatorische und rechtliche Fragen. Quelle: Wikimedia

Es gibt ein permanentes Spannungsfeld zwischen der Wikipedia-Community, unseren anderen Projekten und dem Verein, die zwar alle für das gleiche Ziel arbeiten, aber doch mit einem anderen Blick und vielleicht auch einem anderen Interesse an die Sache herangehen. Momentan haben wir eine Diskussion über eine Partnerschaft mit einem Verlag, der ein einbändiges Lexikon auf Basis von Wikipedia-Inhalten herausgeben wird. Solche Kooperationen folgen üblicherweise Spielregeln, die sich nicht so einfach in Einklang bringen lassen mit dem Wunsch der Community nach umfassender Mitsprache und absoluter Transparenz . Wir denken permanent darüber nach, wie wir diese zwei Welten näher zusammenbringen können.

Warum engagieren Sie sich überhaupt für die Förderung freien Wissens?

Für mich war und ist es faszinierend, dass sich in einer einmaligen Gemeinschaftsleistung Menschen auf freiwilliger Basis zusammenschließen, um sich der Mammutaufgabe zu widmen, eine Enzyklopädie zu schreiben. Das wäre ohne das Konzept des freien Wissens überhaupt nicht möglich. Denn eine der zentralen Grundlagen für diesen Erfolg ist es, dass diese Inhalte hinterher niemandem gehören, sondern letztlich allen zur Verfügung stehen. Jeder, der etwas dazu beiträgt, stellt seine Beiträge unter eine freie Lizenz, die jedermann das Recht einräumt, auch auf dieser Basis weiterzuarbeiten, ohne den ursprünglichen Urheber erst explizit um Erlaubnis bitten zu müssen.

Wie wichtig ist der Verein Wikimedia für Wikipedia?

Die Wikipedia würde ohne Wikimedia Deutschland sicherlich nicht untergehen. Aber der Verein hat in den letzten Jahren doch ganz erheblich zum Erfolg des Projekts Wikipedia beigetragen, auch durch seine Investitionen in Hardware. Wir haben auch im letzten Jahr wieder einen Großteil der Spendengelder in unser Rechenzentrum in Amsterdam investiert, wo derzeit 30 Hochleistungsserver die europäischen Wikipedia-Anfragen bearbeiten. Ohne diese Server würde auch das Hauptrechenzentrum in Florida ganz schön ins Straucheln geraten.

Wohin wird sich Wikipedia in den nächsten Jahren entwickeln?

Das Projekt wird sich weiterentwickeln, nicht zuletzt weil das Thema Wissen ja ohnehin ein dynamisches ist. Aber auch qualitativ kann man da noch einiges machen. Es entspricht bei weitem noch nicht alles dem Qualitätsniveau, das sich die regelmäßigen Wikipedia-Autoren selbst wünschen. Deshalb gibt es ja auch ein fortwährendes Ringen darum, wie man die inhaltliche Qualität weiter verbessern kann. Mit den sogenannten „gesichteten Versionen“ läuft gerade ein großes Experiment in diese Richtung. Ziel ist es, dass gelegentliche Leser von Wikipedia nicht mehr mit offensichtlichem Vandalismus konfrontiert werden. Also mit den üblichen Schülerscherzen in der großen Pause, die zum Beispiel Borat zum Präsidenten von Kasachstan machen. Künftig sollen solche Scherze dadurch vermieden werden, dass anonyme Änderungen oder Änderungen von schon länger nicht mehr angemeldeten Nutzern zunächst einmal von einem seit längerer Zeit aktiven Wikipedia-Autoren kontrolliert und bestätigt werden müssen.

Ihre Wünsche für Wikipedia?

Ich wünsche mir, dass das Projekt Wikipedia trotz der Größe und der Bedeutung, die es mittlerweile hat, die Lust nicht verliert, weiter zu experimentieren – Dinge auszuprobieren, von denen man im Vorfeld nicht weiß, ob sie funktionieren. Denn ohne diese Experimentierfreude würde es die Wikipedia überhaupt nicht geben. Oder wer hätte 2001 ernsthaft damit gerechnet, dass aus einer leeren, für jedermann änderbaren Internetseite ohne zentrale Kontrollinstanz einmal die größte Enzyklopädie aller Zeiten werden wird?