Remscheid. .

Einen Mindestlohn um zehn Euro wollte die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in der Pflege durchsetzen. 8,50 Euro sind es geworden, mehr hat vor allem die Diakonie verhindert. Verdi-Chef Frank Bsirske sagt im WAZ-Gespräch mit Stefan Schulte, warum er Pflegekräfte noch immer für unterbezahlt und Leiharbeit in Heimen für Lohndrückerei hält.

Herr Bsirske, der Mindestlohn in der Pflege kommt. Glauben Sie, dass 8,50 Euro Stundenlohn im Westen reichen, um wieder mehr qualifizierte Kräfte für diesen harten Beruf zu begeistern?

Bsirske: Nein. Das kann nur eine Durchgangsstation sein. Die Pflege ist eine der am stärksten belastenden Tätigkeiten in unserer Gesellschaft. Deshalb müssen wir den Lohn dafür auf ein höheres Level heben. Denn der Bedarf an Pflegekräften wird zunehmen. In Großstädten haben wir zum Teil 50 Prozent und mehr Single-Haushalte. Das familiäre Umfeld, in dem früher die Pflege organisiert wurde, verändert sich dramatisch.

Viele Pflegerinnen – Experten sagen: die besten – haben ihren Beruf wegen des enormen Zeitdrucks aufgegeben. Sind nicht die knappen Personaldecken und Budgets Hauptprobleme in der Pflege?

Ja, natürlich, das ist eine Frage der Refinanzierung des Systems. Die Gesellschaft darf sich nicht damit abfinden, dass gute Kräfte aufhören, weil die Kluft zwischen ihrem Anspruch an die eigene Tätigkeit und der Wirklichkeit immer größer wird. Hier gilt es gegenzusteuern. Die Gesellschaft muss der Pflege einen höheren Stellenwert geben. In zu vielen Heimen herrschen völlig inakzeptable Zustände, die eher Flüchtlingslagern ähneln als Einrichtungen, wie wir sie uns wünschen. Um das zu ändern, braucht es eine bessere Refinanzierung.

Birgt der Mindestlohn nicht die Gefahr, dass die Pflegeanbieter noch mehr als bisher auf Leiharbeitskräfte zurückgreifen, um Kosten zu sparen?

Zunächst einmal macht der Mindestlohn Schluss damit, dass Pflegekräfte mit vier, fünf Euro die Stunde abgespeist werden. Das ist arbeitende Armut unter entwürdigenden Bedingungen. Sicher, der ein oder andere Arbeitgeber könnte versucht sein, den Mindestlohn durch Leiharbeit zu tunneln. Doch das wäre rechtlich unzulässig, weil der Mindestlohn auch für die Leiharbeiter obligatorisch ist. Grundsätzlich sollte das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz so geändert werden, dass mindestens gleiche Bezahlung für die gleiche Tätigkeit sichergestellt ist. Noch besser wäre der französische Weg: Dort gibt es gleiche Bezahlung und dazu noch einen Leiharbeiter-Aufschlag. Er trägt der größeren Unsicherheit des Arbeitsverhältnisses Rechnung.

Selbst Wohlfahrtsverbände wie die AWo und kirchliche Anbieter wie die Diakonie haben eigene Leiharbeitsfirmen für Pflegekräfte gegründet. Was halten Sie davon?

Das ist ein aktiver Beitrag zur Entsicherung der Arbeitnehmerverhältnisse auf dem Rücken alter Menschen und ein aktiver Beitrag zur Lohndrückerei, um Profit daraus zu schlagen. Dem muss ein Riegel vorgeschoben werden.

Wenn die Pflegedienste und Heime schon heute kaum noch qualifizierte Kräfte finden, ist es nicht an der Zeit, die Grenzen für ausländische Pflegekräfte zu öffnen und die Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit abzuschaffen?

Die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit gilt innerhalb der Europäischen Union ab 1. Mai 2011. Deshalb haben wir uns vehement für einen Pflegemindestlohn eingesetzt, um möglichem Lohndumping entgegenzuwirken. Wer hier arbeitet, soll zu den gleichen Entlohnungsbedingungen arbeiten, wie hier wohnende Beschäftigte. Zuerst ist es aber geboten, mehr junge Menschen in den Pflegeberufen auszubilden. Dafür müssen die Bedingungen verbessert werden. Es kann doch nicht sein, dass in manchen Bundesländern Auszubildende sogar noch ein Schulgeld zahlen müssen, statt ordentlich entlohnt zu werden.

Rund-um-die-Uhr-Kräfte aus Polen, die über Agenturen vermittelt werden, sind für viele ältere Menschen aber schon heute unverzichtbar. Das Problem ist, dass sie nach einigen Monaten zurück nach Polen müssen.

Die zeitliche Befristung spielt bei legalen Arbeitsverhältnissen heute keine Rolle mehr, auch nicht bei polnischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Aber deren flächendeckender Einsatz ist nicht die Lösung des Problems, sondern Teil einer Billiglohnstrategie zu Lasten der Pflegebedürftigen.

Das sehen die Betroffenen anders. Ihre Alternative zur 24-Stunden-Pflege daheim ist oft nur noch der Gang ins Heim.

Dennoch ist richtig, vor allem eine Aufwertung dieses Berufsfeldes anzustreben. Sonst wird die Altenpflege eine prekäre und diskriminierende Arbeit bleiben. Zumal osteuropäische Pflegekräfte wegen der Billiglöhne zunehmend an Deutschland vorbei in andere westeuropäische Länder wandern.