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Essen. Pillen für 572 Euro hat der Durchschnittsdeutsche im vergangenen Jahr geschluckt. Zehn Jahre vorher kam er mit 380 Euro aus. Alle Versuche, die Arzneikosten in den Griff zu bekommen, sind bisher mehr oder weniger gescheitert. Die neue Regierung will es wieder versuchen.
Pillen für 572 Euro hat der Durchschnittsdeutsche im vergangenen Jahr geschluckt. Zehn Jahre vorher kam er mit 380 Euro aus. Von solchen Steigerungen können Ärzte und Kliniken nur träumen. Alle Versuche, die Arzneikosten in den Griff zu bekommen, sind bisher mehr oder weniger gescheitert. Die neue Regierung will es wieder versuchen. Doch erste CDU-Vorschläge zur Kostendämpfung werden von der FDP mit dem Stigma „Überregulierung” versehen.
Leonard Hansen hält den Pharmastandort Deutschland nicht für überreguliert, sondern für ein Paradies, in dem die Industrie für ein neues Medikament jeden Preis verlangen kann. Sie müsse nur nachweisen, dass es wirkt, aber nicht, ob es auch besser wirkt als andere. Hansen hat in seinen elf Jahren als Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein vier Regierungen kommen und drei gehen sehen, aber keine, die das Problem an der Wurzel gepackt hätte: „Wir sind ein Markt ohne Preisbindung, daran gehen wir kaputt. Die freie Preisbildung muss abgeschafft werden”, sagte er dieser Zeitung.
Es geht um Waffengleichheit
Das klingt staatswirtschaftlich und so gar nicht nach dem Wettbewerb, den sich die Liberalen wünschen. Doch Hansen geht es um Waffengleichheit: „Unser Gesundheitssystem ist ein solidarisches. Wenn alles budgetiert, die Arzneien aber immer teurer werden, ist das nicht hinnehmbar.”
Die meisten Nachbarländer nehmen das auch nicht hin. In Frankreich und den Niederlanden etwa müssen die Hersteller den Preis mit den Kassen verhandeln. Dabei starten sie das Feilschen mit dem oft in Deutschland gesetzten Preis. Franzosen und Niederländer handeln ihn nicht selten um 30 Prozent runter. Und lästern auf europäischen Kongressen gern über die laschen deutschen Regeln, die den Preis in die Höhe schießen lassen.
Kreativität im Umgang mit Gesetzen
Dabei ist es ja nicht so, dass Berlin nichts getan hätte. Es gab Preismoratorien, Festbeträge und vieles mehr. „Es kam eine Reform nach der anderen. Die Pharmaindustrie hat noch jede ausgehebelt, gegen ihre Methoden ist kein Kraut gewachsen”, sagt Hansen.
Der Hausarzt und scheidende KV-Chef denkt dabei nicht nur an die Bataillone von Pharmareferenten und ihre berüchtigten Fortbildungsreisen, Präsente und subtileren Methoden wie Dokumentationsprämien. Wirklich kreativ sei die Pharmaindustrie im Umgehen neuer Gesetze.
Das weiß Hansen aus seiner Arbeit im Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA), in dem Ärzte und Kassen über Festpreise von Pillen entscheiden. Die Arbeit ist mitunter frustrierend. Kommt eine neue Arznei auf den Markt, kann der GBA seinen Nutzen vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit prüfen lassen. Kommt heraus, dass es nicht besser wirkt als andere, wird es in eine Festbetragsgruppe einsortiert. Sie bestimmt für Arzneien desselben Anwendungsgebiets Höchstpreise.
Doch bis es so weit ist, dauert es ein Jahr und länger, so Hansen. „Bis wir fertig sind, hat die Pharmaindustrie wieder eine Kleinigkeit geändert, meldet ein neues Patent an und wir fangen von vorne an.”
Beweislast liegt beim Staat
Die Industrie versucht, Ärzte und Medien in Stellung zu bringen, immer mit Vorwurf, den Patienten sollten neue, bessere Arzneien vorenthalten werden. Ein Beispiel: Für Diabetes-Patienten führte Sanofi-Aventis 1996 das „Analog-Insulin” Lantus ein, das besser wirken sollte als Humaninsulin. Als Lantus einen Festpreis bekam und die Kassen zunächst nicht mehr zahlten, gab es böse Schlagzeilen. Ohne jede Not: Erstens konnte keine bessere Wirksamkeit bewiesen werden. Zweitens senkte der Hersteller den Preis wenig später, so dass letztlich kein Patient verzichten musste.
All das wäre unnötig, wenn die Hersteller gleich beweisen müssten, dass ihr Patent eine echte Verbesserung ist. Solche Kosten-Nutzen-Analysen sind in Großbritannien Voraussetzung für neue Arzneien. In Deutschland liegt die Beweislast bis heute beim Staat.
Dieses Problem hat die CDU erkannt. Gesundheitsexperte Jens Spahn fordert, dass Hersteller gleich mit den Kassen über den Preis einer neuen Arznei verhandeln müssen. Möglich sei ein Festpreis, der erhöht werden könne, sobald der Hersteller den Mehrnutzen beweisen könne. „So ginge es”, pflichtet KV-Chef Hansen bei. Fehlt als Fürsprecherin nur noch die FDP.