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Deutschland sorgt sich um seine Mittelschicht. Sie schrumpft, das wissen wir seit langem und sind unlängst durch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) daran erinnert worden. Nur: Ziehen wir auch die richtigen Schlüsse aus diesem Befund? Wo ist die Mittelschicht hin? Die Leseanleitung des DIW, die Mittelschicht befielen immer größere Ängste abzurutschen, legt nahe, dass diese Gefahr akut besteht und immer größer wird. Doch genau das stimmt für die meisten nicht.
Dass sich die Einkommensschere öffnet, ist unstrittig. Doch bevor man aus den bloßen Zahlen Forderungen ableitet, sollte man die Ursachen kennen. Vieles spricht dagegen, dass sich die wachsende Unterschicht aus dem Absturz der Mittelschicht speist. Sie ist vielmehr eine geschlossene Gesellschaft, die aus sich selbst heraus wächst - durch höhere Geburtenraten, schlecht oder gar nicht ausgebildete Kinder und immer mehr Alleinerziehende. Das macht die Entwicklung nicht besser, aber deutlich, wo die Politik ansetzen müsste.
Die Zahlen
Die DIW-Zahlen scheinen auf den ersten Blick leicht zu deuten: Oberschicht und Unterschicht sind zwischen den Jahren 2000 und 2008 um jeweils rund drei Prozent gewachsen, die Mittelschicht ist um sechs Prozent geschrumpft. Klingt, als wäre im Saldo je die Hälfte in die Oberschicht aufgestiegen oder in die Unterschicht abgerutscht.
Doch das würde eine konstante Zahl von Haushalten voraussetzen. Die steigt aber seit Jahrzehnten rasant an, hat sich seit 1960 verdoppelt und ist allein seit dem Jahr 2000 um rund zwei Millionen auf gut 40 Millionen gestiegen. Die neuen Haushalte haben erheblichen Einfluss auf die Statistik. Fast jede zweite Ehe wird mittlerweile geschieden. Und eine alleinerziehende Mutter steigt selten in die Oberschicht auf, in der Regel geht es mit ihrem Einkommen steil abwärts. Auch ein Heranwachsender, der von zu Hause auszieht, reiht sich eher ins untere Einkommensgefüge ein.
Für klassische Mittelschicht-Familien hat die DIW-Studie durchaus gute Nachrichten: Ihre Chancen, in die Oberschicht aufzusteigen, sind nicht schlecht. Gleichzeitig ist die Gefahr abzurutschen weit geringer als gemeinhin befürchtet. Hartz-IV-Empfänger, die vormals 3000 Euro brutto oder mehr verdient haben, gibt es zwar, aber ihr Anteil liegt im Promillebereich, bei 0,3 Prozent - etwas wenig für ein Massenphänomen. Die überwiegende Mehrheit der Langzeitarbeitslosen rekrutiert sich aus dem wachsenden Heer der Geringverdiener.
Das Hauptproblem ist ganz offensichtlich, dass der Aufstieg aus der Unter- in die Mittelschicht weit seltener gelingt als aus der Mittel- in die Oberschicht.
Wandel der Gesellschaft
Die Familienstrukturen haben sich dramatisch gewandelt. Die Zahl der Alleinerziehenden ist allein zwischen 1996 und 2006 um ein Viertel von 1,3 auf 1,6 Millionen gestiegen. Ehehaushalte spalten sich in der Regel auf in einen Alleinerzieher- und einen Single-Haushalt, die meistens beide weniger Geld zur Verfügung haben, weil zwei Mieten und Unterhalt gezahlt werden.
Eine Frau, die allein mit ihren Kindern zurechtkommen muss, wechselt von Vollzeit auf Teilzeit, scheidet ganz aus dem Beruf aus. War sie in ihrer Ehe Hausfrau, wird sie es schwer haben, mehr als einen Niedriglohnjob zu bekommen. Nicht ohne Grund sind vier von zehn Alleinerziehenden auf Hartz IV angewiesen.
Wie reagiert man darauf? Man kann, wie Meinhard Miegel in der „Welt”, den Rat geben, man müsse sich ja nicht trennen. Das ist etwa so erfolgversprechend wie der Rat an eine Zeitbombe, langsamer zu ticken. Politik ist nicht dazu da, gesellschaftliche Phänomene zu beklagen, sondern auf sie zu reagieren. Die Vorstellung, der Staat könne etwas daran ändern, dass die Menschen offenbar doch nicht so monogam sind wie es die Gesellschaft gerne hätte, erfordert schon eine ziemlich schräge Phantasie.
Konstruktiver wäre es, die Bedingungen für Alleinerziehende zu verbessern, damit sie nicht abrutschen. Andere Länder haben es vorgemacht. In Deutschland wird dieses durchaus vorhandene Ansinnen im nie enden wollenden Föderalismus-Streit zerrieben. Der Bund will Geld geben, die Länder nehmen es nur zum Teil an und die Kommunen fühlen sich mit ihrem Eigenanteil überfordert. Der Staat hält es mit Miegel und verschlimmert die Situation durch unterlassene Hilfeleistung.
Die Löhne
Die schwache Lohnentwicklung seit der Wiedervereinigung ist eine der Ursachen für die sich öffnende Schere, aber auch sie macht weniger der Mittelschicht zu schaffen als vielmehr die Ärmeren noch ärmer. Das ist ein sehr wichtiger Unterschied.
Dass die Reallöhne seit der Wiedervereinigung kaum gestiegen und im neuen Jahrtausend sogar um 0,8 Prozent gesunken sind, liegt nicht an den Tariflöhnen. Die sind zwar nur moderat, aber immerhin auch real zwischen 2000 und 2009 um 5,1 Prozent gestiegen. Der klassische Facharbeiter ist nicht abgerutscht. Das Problem sind die klassischen Niedriglohnbereiche im Dienstleistungssektor und die Flut von Teilzeit- und Minijobs mit niedrigen Stundenlöhnen.
Wenn über sittenwidrige Löhne diskutiert wird, geht es um Jobs im Einzelhandel, im Reinigungs- oder Gastronomiegewerbe. Wer aufgrund seiner geringen Qualifikation solche Jobs annehmen muss, kommt aus den unteren Einkommensschichten kaum mehr heraus. Wenn über Mindestlöhne diskutiert wird, muss es deshalb gezielt um diese Problembranchen gehen.
Bildungslücken
Noch eine unterlassene Hilfeleistung: Der Staat weiß seit langem, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien und Haushalten mit niedrigen Einkünften es schwer haben, diesem Umfeld zu entwachsen. Dass sich in Deutschland Armut vererbt, schreibt die OECD der Bundesrepublik regelmäßig ins Stammbuch. Doch das vergilbt, während die Regierung versucht, mit dem Elterngeld mehr Akademiker zum Kinderkriegen zu bewegen.
Dahinter steckt die unausgesprochene Hoffnung, die gebildeten Schichten mögen für mehr gebildeten Nachwuchs sorgen und die Unterschichtler sich bitte etwas seltener reproduzieren. Das ist die Kapitulation vor den Herausforderungen der Bildungspolitik. Statt dafür zu sorgen, dass alle Kinder die gleichen Bildungs- und damit Aufstiegschancen haben, will man aussortieren.
Dabei predigen Ökonomen seit Jahren, dass unsere altern-de Gesellschaft jedes Kind braucht, dafür aber eben auch jedes Kind optimal fördern muss, um genügend Fachkräfte für die immer spezialisierteren Berufsfelder unserer Hightech-Gesellschaft zu erhalten.
Migranten
Migrantenfamilien machen einen wachsenden Teil der Unterschicht aus. Sie sind doppelt so häufig arbeitslos und ihre Kinder erhalten nur halb so oft einen Ausbildungsplatz wie deutsche Jugendliche. Ihr Anteil an der Bevölkerung wächst kaum mehr durch Zuwanderung, aber durch eine höhere Geburtenrate. 1,7 Kinder kriegt eine in Deutschland lebende ausländische Frau im Durchschnitt, eine deutsche nur gut 1,3.
Die einzige Chance, aus diesen Kindern spätere Leistungsträger unserer Gesellschaft zu machen, ist eine bessere Bildung bereits ab dem Kindergarten. Denn dass sich geringe Bildung scheinbar vererbt, sagt nichts über die Intelligenz von Migranten, aber viel über die Durchlässigkeit unseres Schulsystems aus.
Der beste Hebel, die Einkommensschere langfristig zusammenzudrücken, liegt nicht in der Lohn- und Steuerpolitik. Sondern in der Bildung.