Frankfurt am Main. Die Europäische Zentralbank hat die lang erwartete Zinswende eingeleitet. Welche Voraussagen nun erfüllt werden – und welche nicht.
Um die Inflation in den Griff zu bekommen, hatte die europäische Notenbank den Leitzins für die Eurozone seit Juli 2022 im Rekordtempo um 4,5 Prozentpunkte angehoben. Nun sinkt der Einlagezins, den Banken bekommen, wenn sie Geld bei der EZB anlegen, von 4 auf 3,75 Prozent. Der Refinanzierungssatz, den Banken zahlen müssen, wenn sie Geld bei der EZB leihen, beträgt künftig 4,25 Prozent.
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Der aktuelle Zinsschritt hatte sich lange angebahnt und ist vor allem für die deutsche Wirtschaft ein wichtiges Signal. Doch sind die Effekte der Zinswende für Sparer, Unternehmen oder den Immobilienmarkt kurzfristig vermutlich eher überschaubar. Ein Überblick.
Kreditnehmer
Die EZB hat die Finanzwirtschaft seit Monaten auf eine Zinswende eingestellt. „Die Tatsache, dass die Finanzmärkte auf den Schritt vorbereitet waren, heißt, dass es bei Finanzierungsbedingungen für Verbraucher erst einmal sehr wenig Veränderungen geben wird“, erwartet Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING. „Hier hängt viel vom weiteren Vorgehen der EZB ab. Nur wenn weitere Zinssenkungen folgen, würden etwa auch die Kreditzinsen allgemein sinken“.
Sparer
Verbraucher, die für ihr Erspartes aufs Tagesgeld- oder Festgeldkonto setzen, müssen sich dagegen wohl darauf einstellen, dass es jetzt mit den Zinsen leicht nach unten gehen könnte, sagt Brzeski. Viele Banken haben die erwartete erste Zinssenkung bereits in ihren Konditionen verarbeitet. „Banken richten ihre Tages- und Festgeldzinsen nicht an einzelnen Zinsschritten aus, sondern am langfristigen Trend“, erklärt der Chefvolkswirt der DekaBank, Ulrich Kater.
Das Vergleichsportal Verivox stellt fest, dass Festgeldzinsen bereits seit Ende des vergangenen Jahres bereits spürbar nachgegeben haben. Seit kurzem zeige sich diese Entwicklung auch beim Tagesgeld: „In den vergangenen Wochen haben viele Banken noch abgewartet, doch müssten Sparer damit rechnen, dass auch die Tagesgeldzinsen noch deutlicher als bisher sinken werden“, sagt Verivox-Geschäftsführer Oliver Maier.
Börse
Aktienanleger zeigten sich am Tag der erwarteten Zinssenkung zunächst optimistisch. Der Dax startete mit einem Plus von einem Prozent auf einen Stand von 18.775 Punkten. Seit Monaten marschiert das wichtigste deutsche Börsenbarometer von einem Rekord zum nächsten – immer in der Erwartung einer baldigen Leitzinssenkung.
Der erste Zinsschritt ist an den Aktienmärkten nach Meinung der Analysten in den Kursen bereits weitgehend verarbeitet. Umso wichtiger ist es, was Beobachter aus der Begründung der Notenbanker herauslesen: Wird es zügig weitergehen mit weiteren Zinssenkungen? Dann werden die Kurse voraussichtlich weiter steigen und der Dax könnte eine neue Rekordmarke anpeilen.
Immobilienmarkt
Wer ein Haus finanzieren möchte, sollte sich vom ersten Zinsschritt wohl nicht zu viel erwarten. Die heutige Entscheidung werde zunächst nur wenig Entlastung bringen, befürchten Marktexperten. Die Finanzmärkte seien mittlerweile von ihren Erwartungen für das Gesamtjahr abgerückt, erklärt der Finanzierungsdienstleister Interhyp. Vermutlich würden sich die Kreditzinsen eher seitwärts bewegen. „Wenn die Leitzinsen von jetzt ab stärker gesenkt würden als am Markt erwartet, dann sinken auch die Bauzinsen weiter“, analysiert Kater. „Wir können uns für den Rest des Jahres einen leichten Rückgang vorstellen, aber keine grundsätzliche Änderung der Finanzierungslandschaft.“
Überdies haben die Immobilienpreise seit Jahresbeginn wieder leicht zugelegt. Einen sprunghaften Anstieg bei den Preisen erwarten die Experten aber nicht.
Konjunktur
Herbeigesehnt hat eine Zinswende vor allem die Wirtschaft. Schließlich verteuern hohe Zinsen die Kreditaufnahmen und damit Investitionen. Können sich Unternehmen dagegen günstiger refinanzieren, hilft das in der Regel dem Wirtschaftswachstum. Nur nicht sofort: Im Durchschnitt vergehe gut ein Jahr, bis die Konjunktur von niedrigeren Zinsen profitiert, sagt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Die Konjunktur werde mittelfristig profitieren, prognostiziert Ulrich Kater: „Bisher musste sie mit ziemlich angezogener Handbremse vorwärtskommen. Diese Bremse lockert sich nun ein wenig, ist aber immer noch angezogen“.
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Der Sachverständigenrat für Wirtschaft erwartet in seiner Frühjahrsprognose eine stützende Wirkung frühestens im kommenden Jahr.
Inflation
Sorgen bereitet der EZB, dass der durch die striktere Geldpolitik entstandene Fortschritt bei der Inflationsbekämpfung zuletzt ins Stocken geraten ist. In der Eurozone hatten die Verbraucherpreise im Mai wieder angezogen. Sie stiegen laut Statistikamt Eurostat gegenüber dem Vorjahresmonat um 2,6 Prozent, gegenüber 2,4 Prozent im Vormonat.
Eine wichtige Rolle kommt dabei auch der Lohnentwicklung zu: Steigen die Löhne schnell und kräftig, könnte das die Teuerung wieder beschleunigen. Vor allem Dienstleistungen werden aktuell teurer.
Wann kommt die nächste Zinssenkung?
Mehrheitlich erwarten Marktbeobachter für das laufende Jahr zwei weitere Zinssenkungen um jeweils 0,25 Prozentpunkte. „Für weitere Lockerungsschritte wird die EZB in den Daten vor allem ein Abklingen des hohen Preisdrucks bei den Dienstleistungen sehen wollen“, unterstreicht Fritzi Köhler-Geib, die Chefökonomin der Kreditanstalt für Wiederaufbau.
„Wir haben nichts entschieden, was die Zahl der Zinssenkungen und deren Ausmaß betrifft“, sagte unlängst EZB-Vizepräsident Luis de Guindos. Die EZB werde sehen, wie sich die wirtschaftlichen Daten entwickeln. „Wir brauchen eine vorsichtige Geldpolitik.“ Ähnlich hatte sich auch EZB-Direktorin Isabel Schnabel geäußert.
Für viele Mittelständler ist die Zinssenkung der Europäischen Zentralbank nur ein Tropfen auf den heißen Stein. „Für unternehmerische Investitionsentscheidungen sind wettbewerbsfähige Rahmenbedingungen am Standort Deutschland viel entscheidender als der aktuelle Zinssatz“, sagte Christoph Ahlhaus, Bundesgeschäftsführer Der Mittelstand. (BVMW) dieser Redaktion. Der Mittelstand schaut vielmehr auf die Themen „Steuern, Bürokratie, Fachkräfte und bezahlbare Energiepreise“.
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