Leverkusen. Der Chemiekonzern Covestro sieht dringenden Handlungsbedarf bei den Strompreisen. Covestro-Vorstand Thorsten Dreier schlägt im Interview Alarm.

Während des Interviews kann Covestro-Vorstandsmitglied Thorsten Dreier auf das Werksgelände seines Konzerns in Leverkusen blicken. Es sind harte Zeiten für die Chemiebranche. Angesichts hoher Energiepreise sieht Dreier die Zukunft der Industrie in Deutschland in Gefahr. Weltweit gehören rund 18.000 Arbeitsplätze zu Covestro. Wird es Job-Verlagerungen von Deutschland ins Ausland geben? Welche Erwartungen hat Covestro an die Bundesregierung? Und wie steht es um die Verhandlungen mit dem Konzern Adnoc aus Abu Dhabi, der eine Übernahme von Covestro erwägt? Dreier äußert sich dazu im Gespräch mit unserer Redaktion.

Herr Dreier, die Bilanzen von Deutschlands Chemieriesen lassen erahnen, dass der Druck in der Branche groß ist. Wie ernst ist die Lage?

Dreier: Ganz klar: 2023 war ein herausforderndes Jahr. Die Nachfrage in vielen Branchen, in denen unsere Kunden sind, war rückläufig und ist immer noch schwach. Nehmen Sie die Bau- oder die Möbelindustrie sowie Elektro- und Elektronikhersteller. Eine positive Ausnahme ist die Automobilindustrie.

Handelt es sich um eine der üblichen konjunkturellen Schwächephasen – oder sind die Probleme tiefergehend?

Dreier: Ein entscheidender Faktor sind die massiv gestiegenen Energiekosten. Im Jahr 2020 haben wir bei Covestro global rund 600 Millionen Euro für Energie bezahlt. 2021 war es etwa eine Milliarde Euro. Ein Jahr später lagen wir dann bei 1,8 Milliarden Euro. Das ist eine Verdreifachung innerhalb kurzer Zeit bei einem entscheidenden Kostenfaktor.

Aber 2023 dürfte sich die Lage zumindest etwas entspannt haben.

Dreier: Im laufenden Jahr werden wir vermutlich wieder rund eine Milliarde Euro für Energieaufwenden müssen. In anderen Regionen der Welt – in den USA und China etwa – sind die Energiepreise längst wieder auf das Kostenniveau vor Beginn des Ukraine-Kriegs zurückgegangen. Das ist das Problem in Deutschland. Der Aufwand, Flüssiggas beispielsweise aus den USA nach Deutschland zu bekommen, ist erheblich größer. Die damit verbundenen höheren Preise belasten unser Geschäft.

Seit Monaten rufen der Branchenverband VCI und die Gewerkschaft IGBCE nach einem Industriestrompreis, der mit staatlicher Hilfe nach unten gedrückt werden soll. Aber können Subventionen das Problem lösen?

Dreier: Normalerweise bin ich auch niemand, der nach Subventionen ruft. Aber die chemische Industrie benötigt Energiekosten, die unsere deutschen Werke wettbewerbsfähig machen im Vergleich mit Herstellern aus China und den USA. Wir sprechen aus gutem Grund von einem „Brückenstrompreis“. Bis ausreichend Wind- und Solarenergie zu bezahlbaren Preisen in Deutschland zur Verfügung steht, müssen wir sechs, sieben Jahre überbrücken und die energieintensive Industrie entlasten.

Covestro-Vorstandsmitglied Thorsten Dreier: „Es besteht dringender Handlungsbedarf. Wir können so nicht weitermachen. Ohne eine Entlastung bei den Energiekosten wird der Standort Deutschland dauerhaft beschädigt.“
Covestro-Vorstandsmitglied Thorsten Dreier: „Es besteht dringender Handlungsbedarf. Wir können so nicht weitermachen. Ohne eine Entlastung bei den Energiekosten wird der Standort Deutschland dauerhaft beschädigt.“ © Covestro | Marcus Mueller-Saran

Tausende Beschäftigte sind nach Aufrufen der IGBCE in den vergangenen Wochen bei BASF in Ludwigshafen, am Chemiestandort Leverkusen und vor dem Werksgelände von Thyssenkrupp Steel in Duisburg auf die Straße gegangen, um für niedrigere Strompreise zu demonstrieren. Zu den Forderungen an die Bundesregierung gehört, den Strompreis für energieintensive Betriebe befristet auf fünf Cent pro Kilowattstunde zu deckeln. Unterstützen Sie die Gewerkschaft bei ihrem Protest?

Dreier: Ja, absolut. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Wir können so nicht weitermachen. Ohne eine Entlastung bei den Energiekosten wird der Standort Deutschland dauerhaft beschädigt.

Rechnen Sie mit Verlagerungen von Anlagen und mit Stellenabbau – auch bei Covestro?

Dreier: Wir sind ein globaler Konzern mit deutschen Wurzeln und wollen das auch bleiben. Unser Bekenntnis zum Standort steht. Wir haben eine Standortsicherung bis 2028. Aber in dem Umfeld, in dem wir unterwegs sind, ist es schwierig, langfristige Investitionsentscheidungen zu treffen. Weltweit betreiben wir rund 50 Produktionsstandorte in Asien, Amerika und Europa. Wenn wir nach vorne blicken, stellt sich aus unserer Sicht immer die Frage: Wo werden wir verstärkt investieren?

Droht Deutschlands Chemieindustrie ein Sterben auf Raten?

Dreier: Das gilt es zu verhindern. Aber klar ist auch: Wenn die Energiekosten nicht runtergehen, sind langfristige Neuinvestitionen in der Chemieindustrie schwierig.

Wollen Sie die chemischen Produkte für Ihre heimischen Kunden dann aus anderen Weltregionen nach Deutschland bringen?

Dreier: Grundsätzlich haben wir bei Covestro das Prinzip, dass wir in den jeweiligen Weltregionen für die Kunden vor Ort produzieren möchten. Nur ein sehr geringes Volumen unserer Produkte transportieren wir rund um den Globus – etwa zehn Prozent. Wenn es keine Entspannung bei den Energiekosten gibt, stellt sich die Frage, wie wir unsere Lieferketten und unser Produktionsnetzwerk weiter optimieren können. Dann werden Produktionsstandorte außerhalb Deutschlands attraktiver.

Heißt das dann: mehr USA und Asien, weniger Deutschland?

Dreier: Wir können jedenfalls nicht an den Realitäten vorbeiplanen. Wir haben derzeit Strompreise, die in Deutschland etwa drei bis vier Mal so hoch sind wie in den USA. Das lässt sich nicht wegdiskutieren oder allein durch mehr Energieeffizienz in unseren deutschen Werken kompensieren.

Im November hat die Bundesregierung ein „Strompreis-Paket“ zur Unterstützung der energieintensiven Industrie präsentiert. So ist unter anderem eine Senkung der Stromsteuer vorgesehen. Reicht Ihnen das nicht aus?

Dreier: Wir spüren durch das geplante Strompreis-Paket so gut wie keine Entlastung. Das ist für ein energieintensives Unternehmen wie uns ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir können nur weiter an die Bundesregierung appellieren: Eine wirkliche Entlastung bei den Energiekosten ist weiterhin dringend notwendig.

Werden Deutschlands Chemiekonzerne zu Übernahmekandidaten? Jedenfalls hat die Abu Dhabi National Oil Company – kurz Adnoc –schon ein Auge auf Covestro geworfen und erwägt eine Übernahme. Anfang September hat der Covestro-Vorstand offiziell bestätigt, dass dazu Gespräche laufen. Wie ist der aktuelle Stand?

Dreier: Wir führen ergebnisoffene Gespräche mit Adnoc. Daran hat sich nichts geändert. Ob, in welcher Form und gegebenenfalls zu welchen Konditionen eine Vereinbarung zwischen den Gesprächspartnern zustande kommt, ist offen und wird vom Verlauf der Gespräche abhängen. Das Interesse von Adnoc sehen wir als Bestätigung unserer Strategie, die stark auf das Thema Nachhaltigkeit setzt.

Am 18. Dezember sind Sie beim NRW-Mobilitätstag in Essen. Dort treffen Sie voraussichtlich auch auf NRW-Verkehrsminister Oliver Krischer. Hoffen Sie auf Unterstützung der Landesregierung in Sachen Strompreissenkung?

Dreier: Hier müssen wir nicht hoffen. Die Landesregierung hat den Ernst der Lage längst erkannt und unterstützt voll unseren Appell an die Bundesregierung für einen Brückenstrompreis. Genauso wie die Gewerkschaften, sowie die Regional- und Lokalpolitik. Zu hoffen bleibt, dass nun endlich auch in Berlin erkannt wird, wie dramatisch die Situation tatsächlich ist. Und das möglichst bald.

Deutschlands Chemieindustrie geht durch schwere Zeiten. Welcher Führungsstil ist Ihnen angesichts dieser Lage wichtig?

Dreier: Es ist sehr wichtig, dass wir eine offene und ehrliche Kommunikation haben, und dafür stehe ich auch im Konzern. Covestro hat eine klare Strategie, deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen werden.

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