Goole/London. Der deutsche Siemens-Konzern schnappt sich einen Milliardenauftrag in London – und plant nichts weniger als eine U-Bahn-Revolution.
Vergangenheit und Zukunft liegen auf dem Gelände der neuen Siemens-Mobility-Zugfabrik im ostenglischen Goole nur wenige Meter auseinander. Unweit einer Halle hat das Unternehmen drei Züge abgestellt, die früher auf der Strecke des Heathrow-Express im Einsatz waren. In den 1990er Jahren hatte Siemens den Zuschlag bekommen – der erste große Auftrag aus Großbritannien in Sachen Züge.
Mittlerweile jedoch hat ein Konkurrent die Strecke übernommen und Goole ist gewissermaßen das Abstellgleis für die alten Wagen. Die Zukunft an dem Standort ist nur ein paar Schritte entfernt. In einer anderen Halle steht ein maßstabsgetreues Modell eines neuen Londoner U-Bahn-Zugs der Piccadilly Line. Siemens Mobility hatte im Winter 2018 den Zuschlag für den Auftrag von den Verkehrsbetrieben Transport for London (TfL) bekommen.
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94 Züge sollen zunächst gebaut werden. Dafür erhält der Konzern gut 1,5 Milliarden Pfund (etwa 1,7 Milliarden Euro). Geht alles gut, könnte der Auftrag aber noch deutlich wachsen: Von Hunderten Zügen mit einem Volumen von bis zu fünf Milliarden Pfund ist die Rede. Das neue Werk in Goole soll das Zentrum für die ersten Siemens-Züge „Made in Britain“ werden.
Warum Siemens Mobility erste Züge „Made in Britain“ baut
Das ist auch von der britischen Regierung gerngesehen, die mit öffentlichen Aufträgen die Wertschöpfung im Inland erhöhen will. Siemens hat sich mit der ersten firmeneigenen Zugfabrik auf britischem Boden in dieser Hinsicht nun deutlich bekannt, will bis zu 200 Millionen Pfund investieren und 700 Arbeitsplätze schaffen.
Finbarr Dowling (60) ist der Mann, den Siemens schon in der Vergangenheit geschickt hat, wenn es darum ging, auf einer grünen Wiese neu anzufangen. Der Ire arbeitet seit 34 Jahren für das Unternehmen, hat bereits in Hull an der Ostküste ein Windturbinenwerk hochgezogen, das mittlerweile zu Siemens Gamesa gehört.
In einem Konferenzraum eines neu gebauten Bürogebäudes in Goole steht Dowling vor einem großen Bildschirm. Um zu zeigen, was er hier schon alles geschafft hat, lässt er virtuell nach und nach bestehende und noch geplante Gebäude auf die Karte fliegen.
Im ostenglischen Goole soll eine Art Eisenbahn-Campus entstehen
Siemens will hier die Vision eines Eisenbahn-Campus umsetzen. Erst im Frühjahr war dafür das Komponentenwerk als eine Art erster Baustein eröffnet worden. In zwei weiteren bereits gebauten Hallen sollen bald die Piccadilly-Züge montiert werden. Perspektivisch könnte noch eine Fertigung für Regionalzüge entstehen, auch die Zusage der Universität Birmingham für eine gemeinsame Forschungseinrichtung gibt es schon. Und natürlich sollen sich auch Zulieferer rund um die Kleinstadt Goole ansiedeln, die zu den größten Binnenhäfen Englands zählt.
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Aus neun Waggons bestehen die Piccadilly-Züge, die gut 107 Meter lang sein und Platz für mehr als 1000 Fahrgäste bieten sollen. Zum Start der Produktion in der Kleinstadt will man zunächst zwei Züge pro Monat fertigstellen und erst nach und nach die Stückzahl steigern. Organisiert hat man die Produktion gemeinsam mit dem Werk in Wien, wo die Karosserien der Züge gefertigt und dann nach England gebracht werden.
In Goole werden die Wagen zum Leben erweckt. Sitze, Türen, aber auch Elektrik und Klimaanlagen kommen hier dazu. Weil man sich keine Verzögerung leisten kann, produziert das Werk in Wien die ersten 14 Züge des Auftrags aber noch komplett ohne britische Hilfe. „Wir starten bei Zug 15“, sagt Dowling. Das soll im Oktober nächsten Jahres sein. 2025 will man mit der Auslieferung beginnen.
Züge werden in Kooperation mit dem Wiener Werk gefertigt
Menschen in Goole sollen stolz auf das sein, was Siemens hier erschafft, sagt Dowling. „Die Piccadilly-Züge zählen wohl zu den kultigsten britischen Dingen, die man sich vorstellen kann. Millionen Menschen fahren damit und das machen sie bald in Zügen, die in Goole gebaut wurden, in einem Werk, das vor einigen Jahren noch ein Feld war“, sagt er.
Wer aufmerksam ist beim Zugfahren in Großbritannien, sieht immer mal wieder Siemens-Züge auf den Gleisen. Anbieter wie Thameslink oder Eurostar sind mit Siemens-Technik unterwegs. Hinzu kommen Aufträge für Service, Wartung und Signalanlagen. Der Siemens-Mobility-Chef in Großbritannien, Sambit Banerjee (57), schätzt, dass seit 2002 gut 4000 Züge und Wagen auf die Insel geliefert wurden.
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Auch Banerjee ist Siemens-Urgestein. In seinem Londoner Büro zählt er die zahlreichen neuen, potenziellen Aufträge auf, um die sich Siemens bewerben werde. Man sei extrem bereit dafür, stehe aber natürlich im Wettbewerb mit anderen Anbietern wie Alstom, CAF oder Hitachi. „Da haben wir jetzt durch das neue Werk keinen Vorteil. Nach dem Brexit kann ich mir aber auch keine öffentliche Auftragsvergabe mehr vorstellen, ohne dass Werte in Großbritannien selbst geschaffen werden“, sagt Banerjee.
Auftragswert für Londons U-Bahn kann auf fünf Milliarden Pfund anwachsen
In Goole liegt der Fokus zunächst auf der London Tube: Zu den 94 Zügen für die Piccadilly Line gibt es Optionen, auch die anderen Linien Bakerloo, Central sowie Waterloo & City mit neuen Zügen auszustatten. Insgesamt hätte der TfL-Auftrag an Siemens Mobility dann einen Wert von fünf Milliarden Pfund.
Von TfL heißt es, der Auftrag sei in der Erwartung vergeben worden, dass Siemens Mobility Züge für alle vier Deep-Tube-Linien baue. „Ein einheitliches Zugdesign, eine stärkere Standardisierung des Zugbetriebs, der Personalschulung, der Ausrüstung, der Ersatzteile und der Wartung wird es TfL ermöglichen, Kosten zu sparen“, teilte eine Sprecherin mit. Für das „Go“ mit Blick auf die anderen Linien muss TfL allerdings erneut mit der Regierung über Geld reden.
An dem Design der Züge ändert sich fast nichts
Ohne U-Bahnen geht in Londons City nicht viel. Elf Linien befördern fünf Millionen Passagiere täglich von A nach B. Etwa 700.000 davon nehmen die Züge der Piccadilly Line, die aus den 1970er-Jahren stammen. Mit den neuen Zügen kommen für Fahrgäste Verbesserungen wie eine Klimaanlage hinzu, auch gibt es Verbindungstüren zwischen einzelnen Waggons, was für ein offeneres Raumgefühl und mehr Platz sorgen soll. Die Züge an sich sollen 20 Prozent weniger Energie verbrauchen. An dem blau-rot-weißen „Heritage Design“ hat man festgehalten.
Und auch in Goole auf dem Gelände des Siemens-Mobility-Werks will man die Historie nicht vollends aus dem Blick verlieren. Die drei ausrangierten Heathrow-Wagen sollen als Infopunkt auf dem Gelände, als Teil des Innovationszentrums und als Büro im angrenzenden Naturschutzgebiet weitergenutzt werden.