Düsseldorf. In der Krise ist kein Platz für Steuererleichterungen, sagt DGB-NRW-Chef Guntram Schneider, und will deshalb am Soli festhalten. Über den Solidarpakt Ost will er aber reden, genauso wie über mögliche Massendemos in NRW, falls sich die Kopfpauschale im Gesundheitswesen durchsetzt.

Im Interview vor einem Jahr haben Sie gesagt, dass „Massenarbeitslosigkeit“ alle Chancen hat, in NRW das Wort des Jahres 2009 zu werden. Hatten Sie mit Ihrer Prognose recht?

Schneider: Nicht ganz. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass ich nicht in vollem Umfang Recht behalten habe. Aufgrund verschiedener arbeitsmarktpolitischer Instrumente wie die Kurzarbeit ist die Arbeitslosigkeit nicht so stark angestiegen, wie ursprünglich prognostiziert. Wir haben uns ja auch hier in Nordrhein-Westfalen dafür stark gemacht, dass die Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes verlängert wird. Die eigentlichen Helden des Jahres 2009 sind die Betriebsräte, die ohne große öffentliche Wahrnehmung die Umsetzung der Kurzarbeit in den Betrieben voran gebracht haben.

Ihre Prognose für das Jahr 2010?

Momentan liegen wir noch deutlich unter 900.000 Arbeitslosen. Das kann sich aber ändern. Und wenn Sie hören, dass das Bruttoinlandsprodukt 2009 um fünf Prozent zurückgegangen ist, dann bedeutet das, dass auch die Beschäftigung, die immer nachfolgend reagiert, zurückgehen wird. Wir müssen mit betriebsbedingten Kündigungen rechnen – gerade bei Jüngeren mit Zeitverträgen, Azubis, die nicht übernommen werden, und Älteren. Man kann aber gegensteuern: Die Politik muss weiterhin betriebliche Arbeitsmarkt-Maßnahmen begleiten. Wenn über Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge zum Beispiel die Arbeitszeit auf unter 30 Stunden abgesenkt wird – auch mit großen finanziellen Opfern für die Belegschaft – dann brauchen die Beschäftigten zumindest einen Teil-Lohnausgleich, der von Steuern und Sozialabgaben befreit wird.

Opel hat im vergangenen Jahr die Schlagzeilen dominiert. Was, glauben Sie, kommt in diesem Jahr auf die Beschäftigten des Opel-Werks Bochum zu?

Ja, wenn man das wüsste... Opel ist noch längst nicht über den Berg, weil die Restrukturierungsmaßnahmen des Konzerns weder bekannt noch im Detail diskutiert worden sind. Ich kann nur hoffen, dass der Standort langfristig gesichert ist. Das setzt voraus, dass im Bochumer Opel-Werk mindestens ein Modell produziert wird, und dass man dort die Option hat, einiges Zukunftsweisendes im Automobilbau zu tun - Stichwort Elektroauto. Das ist nicht nur eine Angelegenheit von Bochum, sondern der gesamten Region. Wir sind mit unseren Forschungskapazitäten gut aufgestellt und NRW müsste hier einen Punkt setzen, was ich grüne industrielle Revolution nenne. Also eine ökologische Modernisierung unserer Industrie bei den Prozessen - wie die Minimierung des C02-Ausstoßes - und bei den industriellen Produkten.

Am 9. Mai wird in Nordrhein-Westfalen ein neuer Landtag gewählt. Wie wird sich der DGB NRW in den Wahlkampf einmischen?

Wir werden keine Wahlempfehlung aussprechen. Aber wir werden unsere politischen Schwerpunkte sehr, sehr deutlich machen. Als da wären: die Verbesserung der Beschäftigungssituation, eine grundlegende Reform der Wirtschaftspolitik in Richtung Regionalförderung, ein landesweites Investitionsprogramm zur Zukunftssicherung mit den Schwerpunkten „Energetische Gebäudesanierung“ und „Bildung“.

Ein weiteres großes Feld ist die Energiepolitik. Für uns ist wichtig, dass wir bei der Energie-Einsparung beginnen. Wir müssen erneuerbare Energien stärker fördern und auch am Erhalt des Kohlebergbaus weiterarbeiten, zumindest für einen Zeitraum von sieben bis acht Jahrzehnten. Wir geben uns da noch nicht geschlagen. Es gibt ja die Revisionsklausel im Jahr 2012 und dann wollen wir mal schauen, wie der Energiemarkt aussieht. Was wir kategorisch ablehnen, ist die Atomenergie. Das würde nur zu Lasten der erneuerbaren Energien gehen.

Viele Städte in NRW stehen kurz vor dem finanziellen Kollaps...

Deshalb wollen wir ein Netzwerk schaffen mit allen Beteiligten von den Kirchen bis zum Sport. Das Netzwerk soll über die marode Situation der Städte informieren, aufklären und politische Zielsetzungen formulieren. Erstens brauchen die Gemeinden Hilfe vom Land bei der Entschuldung, auch die NRW-Bank spielt eine große Rolle. Und zweitens wollen wir jenseits der Tagespolitik eine Diskussion anstoßen, die die gesamte Finanzarchitektur zwischen Bund, Land und Städten in Frage stellt.

Ein zweites wichtiges Thema sind die Transferzahlungen von West nach Ost. Ich glaube, es macht keinen Sinn, dass die nordrhein-westfälischen Städte ihrer Verpflichtung durch die Aufnahme von Kassenkrediten nachkommen.

Stellen Sie wie Hannelore Kraft denn auch den Solidarpakt in Frage – oder sagen Sie: Da müssen wir jetzt durch, der läuft bis 2019?

Ich glaube, man kann da nichts dran rütteln. Das ist festgelegt, das ist ein Staatsvertrag. Aber man kann darüber reden und Verträge kann man ändern, wenn alle Beteiligten bereit sind, das zu tun. Den Solidaritätszuschlag, der von allen Arbeitnehmern in Ost und West gezahlt wird, will ich weder auslaufen lassen noch einkassieren. Denn ich bin in der jetzigen Situation überhaupt kein Freund von Steuererleichterungen. Das wäre absurd. Es ist ja geradezu staatsgefährdend, was gerade auf der Berliner Bühne aufgeführt wird.

Im Oktober haben Sie im Interview mit der WAZ-Mediengruppe gesagt, dass die SPD eine „neue Machtoption entwickeln“ müsse – diese bestehe in einem rot-rot-grünen Bündnis. Braucht denn NRW einen Linksruck– oder reicht nicht auch ein treusorgender Landesvater Jürgen Rüttgers?

Ich kann mir auch eine treusorgende Landesmutter vorstellen, daran soll es nicht liegen. Also, ich werde mich in dieser Situation nicht an Koalitions-Spekulationen beteiligen. Wir wollen eine Regierung, die Arbeitnehmer-Interessen ernst nimmt, und zwar nicht nur verbal mit immer neuen Vorschlägen, sondern ganz konkret über die Landes-Gesetzgebung und die Einflussnahme auf die Bundespolitik.

Halten Sie die Linke in NRW für regierungsfähig?

Ich schließe, wenn die Wähler ihr Votum abgegeben haben, in diesem Zusammenhang nichts aus.

Der DGB in Berlin hat angekündigt, wegen der geplanten schwarz-gelben Gesundheitspolitik einen heißen Tanz zu machen. Wie wird der Widerstand in Nordrhein-Westfalen aussehen?

Das kommt darauf an, wie die schwarz-gelbe Koalition in Berlin mit diesem Thema umgeht. Wenn sich wirklich die abstrusen Vorstellungen des neuen Gesundheitsministers durchsetzen, dann werden wir auch an Rhein und Ruhr Widerstand organisieren, mit dem gesamten gewerkschaftlichen Arsenal von Fachkonferenzen bis hin zu Massendemonstrationen. Wir werden da keine Gelegenheit auslassen. Denn eine Zerschlagung der solidarischen, paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens wäre ein tiefer Einschnitt in das Sozialsystem – auch wenn die hälftige Finanzierung bereits jetzt durch Zuzahlungen der Versicherten durchlöchert ist.

Woran krankt unser Gesundheitssystem denn besonders?

Ich glaube, dass die Finanzierungsprobleme nur dann gelöst werden können, wenn man die Anbieter als Kostentreiber in den Fokus nimmt. Eine neue Statistik zeigt, das die Ärzte bei den Einkommen immer noch – wie auch andere Akademiker – an der Spitze liegen. Das ist also Jammern auf hohem Niveau. Aber ich denke ebenso an die pharmazeutische Industrie. Natürlich hätte die Politik bei einem Schweinegrippen-Ausbruch in NRW ein Problem gehabt, wenn sie nicht genügend Impfstoff bestellt hätte. Aber wie das jetzt abgelaufen ist, war es eher ein Gewinnförderprogramm für die entsprechenden Unternehmen. Und ich weiß auch nicht, ob die Gefahr nicht zu stark dramatisiert worden ist.

An der Anbieter-Front sehen Sie also Arbeit. Stehen Sie zudem immer noch zu einer Bürgerversicherung?

Das ist unser langfristiges Ziel. Wir wollen die solidarische Bürgerversicherung im Gesundheitswesen einführen. Alle sollen darin krankenversichert sein und Beiträge zahlen. Dadurch würde man das Beitragsaufkommen erhöhen. Darüber hinaus würde ich die Beitragsbemessungsgrenze, also das höchste Bruttoentgelt für die Berechnung des Beitrages, erheblich anheben. Generell freigeben würde ich sie allerdings nicht, wie mancher das im politischen Spektrum fordert. Zwar sollen auch die Gebrüder Albrecht in die Bürgerversicherung einzahlen, aber für die Berechnung ihres Krankenkassen-Beitrags sollte man nicht ihr gesamtes Vermögen heranziehen.

In diesen Tagen wird ebenfalls intensiv über eine Reform von Hartz IV diskutiert. Wollen Sie wie Ministerpräsident Jürgen Rüttgers eine Grundrevision oder wie Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen eher punktuelle Verbesserungen?

Was heißt Grundrevision? Ich will nicht die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe in Frage stellen. Es gibt aber einen erheblichen Reformbedarf: Die Hebesätze müssen erhöht werden, nicht nur für Kinder. Ich schließe mich der Empfehlung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nach 440 Euro an. Reden müssen wir ebenso über die Zumutbarkeitsregeln. Denn es ist auch volkswirtschaftlicher Unsinn, all diejenigen, die aus dem Arbeitslosengeld I herausfallen, dazu zu bringen, Arbeit gleich welcher Art anzupacken. Dabei gehen Qualifikationen sehr schnell verloren.

Zudem sind eine Erhöhung des Schonvermögens und eine Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I – besonders für langjährige Beitragszahler – sinnvoll. Weil Angst umgeht, gerade in der jetzigen Krise. Wer 40 Jahre alt ist, gehört in der Industrie ja schon zum alten Eisen Der bekommt bei Jobverlust ein Jahr Arbeitslosengeld I und landet dann in der Fürsorge. Da müssen wir temporär – bis zur Überwindung der Krise - drauflegen. Vor allem, weil bekannt ist, dass man schlecht wieder aus dem Arbeitslosengeld II wieder herauskommt.

Wie soll das finanziert werden?

Zur Person

1985 wurde Guntram Schneider als Vorsitzender des DGB-Kreises nach Dortmund berufen. 1990 wechselte er in die Vorstandsverwaltung der IG Metall nach Frankfurt am Main, wo er als Sekretär insbesondere dem damaligen IG-Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler zuarbeitete. Von 1995 bis 2006 war er 1. Bevollmächtigter der IG Metall-Verwaltungsstelle Münster, bevor er 2006 zum DGB-Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen gewählt wurde.

Das ist die zweite Frage. Man kann aber doch nicht Menschen in Armut entlassen und auf der anderen Seite eine öffentliche Debatte über abstruse Steuererleichterungen anfangen. In der Hoffnung, dass darüber die Konjunktur angekurbelt wird. Das ist ausschließlich Hoffnung. Ich kenne auch keinen konservativen Ökonomen, der sagt, das kann aufgehen. Und wir müssen nach wie vor über die Vermögenssteuer und eine Zukunftsanleihe nachdenken.

Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie wollten im September für die SPD in den Bundestag einziehen. Das hat nicht geklappt. Können Sie denn jetzt noch unbefangen mit allen Parteien in NRW reden – oder gar – wie Sie mal selbst gesagt haben – mit Jürgen Rüttgers ein Bierchen trinken gehen?

Ich trinke nach wie vor gerne mit Herrn Rüttgers ein Bier. Damit muss man professionell umgehen. Herr Rüttger weiß, dass ich politisch nie neutral bin. Das ist ja auch gar nicht möglich. Das schließt aber einen vernünftigen menschlichen Umgang miteinander überhaupt nicht aus. Politische Gegensätze dürfen schließlich nicht in Feindschaft ausarten.