Essen. IG Metall und Arbeitgeber einigen sich auf ein Lohnplus von 6,5 Prozent im Stahl – aber für anderthalb Jahre. Was das am Ende wirklich wert ist.

Vier Verhandlungsrunden, Warnstreiks vor den Werkstoren, eine lange Nacht zum Abschluss – die Tarifrunde für die Stahlindustrie führte nach dem klassischen Muster in der Nacht zum Mittwoch zu einem Ergebnis, das die IG Metall als Rekordabschluss der jüngeren Vergangenheit feiert: 6,5 Prozent mehr Löhne und Gehälter gibt es für die rund 68.000 Beschäftigten in NRW, Niedersachsen und Bremen, wo die allergrößten Teile der deutschen Stahlindustrie angesiedelt sind.

Von einer Tariferhöhung „am obersten Rand des gerade noch Vertretbaren“ sprach Gerhard Erdmann, Verhandlungsführer der Arbeitgeber. Knut Giesler, Chefunterhändler der IG Metall, erklärte, den Beschäftigten bringe der Abschluss „sofort ein deutliches Plus von 6,5 Prozent“, dies sei „die höchste prozentuale Erhöhung in der Stahlindustrie seit 30 Jahren“.

Die Rekordinflation gleicht der Abschluss nur zur Hälfte aus

Beides geben die Zahlen allerdings nicht her. Die Tariferhöhung kommt nicht sofort, sondern erst im August. Für die Monate Juni und Juli gibt es eine Einmalzahlung von 500 Euro. Und rechnet man das Lohnplus auf ein Jahr herunter, was einen Vergleich mit der Jahresinflationsrate erst möglich macht, bedeuten 6,5 Prozent bei einer Laufzeit von 18 Monaten eine jahreswirksame Erhöhung von 4,3 Prozent. Das ist immer noch ein hoher Wert, die 5,2 Prozent im Jahr 2008 für 14 Monate waren aufs Jahr gerechnet mit 4,6 Prozent aber mehr wert.

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Die aktuelle bei rund acht Prozent liegende Inflation kann die Erhöhung nur gut zur Hälfte ausgleichen. Dass die Tarifpartner das in dieser Ausnahmesituation auch nicht alleine könnten, hatte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann bereits zu Beginn dieser Woche im Interview mit unserer Zeitung betont. Für den „externen Preisschock“ brauche es einen staatlichen Ausgleich.

Zustimmung der Tarifkommission gilt als sicher

Zahlenmäßig hohe Abschlüsse bei langen Laufzeiten, auch das gehört inzwischen zum Tarifritual, geben beiden Seiten Interpretationsspielräume, die sie nutzen, um den Abschluss ihren jeweiligen Mitgliedern besser zu verkaufen. Die Mitglieder des Arbeitgeberverbands Stahl haben dem Ergebnis bereits zugestimmt, die IG Metall braucht noch grünes Licht von ihrer Tarifkommission.

Die gilt als sicher, denn der Gewerkschaft ist es auch in dieser aufgrund der Rekordinflation besonders schwierigen Runde wie in den meisten Jahren gelungen, etwas mehr als die Hälfte ihrer Forderung durchzusetzen – das waren 8,2 Prozent für zwölf Monate. Die Arbeitgeber hatten zuletzt 4,7 Prozent für 21 Monate geboten. Da die Tarifkommission für die nordwestdeutsche Stahlindustrie diese Forderung beschlossen hat, müsste sie das Verhandlungsergebnis zufriedenstellen.

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Die Stahlindustrie, so formulierte es Gewerkschaftschef Hofmann, profitiert derzeit von den Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, der ihr eine „Sonderkonjunktur“ beschere. „Die Stahlunternehmen verdienen aktuell hervorragend, der Billigstahl aus Asien kommt nicht mehr nach Europa, das macht den Stahl hier knapp und teuer. Die Branche, das gehört zur Wahrheit dazu, profitiert indirekt von dem schrecklichen Krieg in der Ukraine“, sagte er.

Arbeitgeber befürchten, dass der Stahl-Boom nicht anhält

Dem widersprechen die Arbeitgeber auch nur bedingt, befürchten allerdings, dass dieser Effekt nicht die ganze Laufzeit des Tarifvertrags, also anderthalb Jahre lang anhält. Heinz Jörg Fuhrmann, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Stahl, sagte: „Es bleibt zu hoffen, dass die sich am Horizont abzeichnenden Risiken für die deutsche Wirtschaft zumindest nicht ihre volle Wucht entfalten. Sollte dies dennoch geschehen, werden die Tarifpartner Lösungen finden müssen.“

Da es derzeit aber gut läuft, wollten die Arbeitgeber einen längeren Streik unbedingt vermeiden. Das bestätigte Verhandlungsführer und HKM-Geschäftsführer Erdmann unserer Redaktion: „Besser geht immer, aber schlechter geht auch. Streik wäre die Ultima Ratio gewesen, die wirtschaftlichen Folgen wären eine erhebliche Belastung für die Unternehmen gewesen.“

Nasikkol: Wir können sehr stolz sein

Das wusste die IG Metall für sich nutzen. „Die Einigung heute Nacht hat in letzter Sekunde einen Streik verhindert“, sagte Tekin Nasikkol, Gesamtbetriebsratschef von Thyssenkrupp Steel Europe. „Die Arbeitgeber haben zu Beginn leise Zweifel an unserer Geschlossenheit aufkommen lassen. Am Ende haben wir genau diese Stärke gezeigt und das beste Ergebnis seit Jahrzehnten erzielt. Darauf können alle Kolleginnen und Kollegen sehr stolz sein.“

Der Tarifvertrag endet am 30. November 2023. Der Abschluss enthält neben den Lohn- und Gehaltserhöhungen auch eine Verlängerung der Tarifverträge über Altersteilzeit, zur Beschäftigungssicherung sowie über den Einsatz von Werkverträgen. Zudem soll bis Ende Juli ein Tarifvertrag für Dual Studierende vorgelegt werden. Die Auszubildenden erhalten als Einmalzahlung für Juni und Juli 200 Euro, danach ebenfalls die Erhöhung um 6,5 Prozent.