Essen. Evonik-Chef Kullmann hadert mit dem Atomausstieg. Auch das Essener Institut RWI sieht Handlungsbedarf. Importe von Atomstrom könnten zunehmen.
Das Ende der Stromerzeugung in Atomkraftwerken rückt näher. Aktuell sind in Deutschland noch sechs AKW am Netz. Gemäß Atomgesetz werden die drei jüngsten Reaktoren spätestens im Jahr 2022 abgeschaltet, die anderen noch 2021. Doch Evonik-Chef Christian Kullmann, der auch an der Spitze des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) mit 1700 Mitgliedsunternehmen steht, hadert mit dem Atomausstieg. Da Deutschland künftig verstärkt Kohlestrom aus Osteuropa und Kernenergie aus Frankreich importieren müsse, dränge sich ihm die Frage auf, „ob wir nicht selbst die Kernkraft stärker nutzen sollten“.
Für eine stabile Versorgung seien Windkraft und Solarenergie noch nicht ausreichend – und Gaskraftwerke als „Brückentechnologie“ im Vergleich zur Kernkraft „nur die zweitbeste Lösung“, sagte Kullmann unlängst der FAZ. Im vergangenen Jahr habe die Kernenergie immerhin noch rund elf Prozent der Bruttostromerzeugung in Deutschland beigetragen, wird beim VCI betont. Beim Wegfall der Atomkraft müsse für Ersatz gesorgt sein. Perspektivisch benötige nicht nur die Chemieindustrie riesige regenerativ erzeugte Strommengen zu wettbewerbsfähigen Preisen, um treibhausgasneutral werden zu können.
Der Atomausstieg habe Folgen für die Versorgungssicherheit in Deutschland, urteilt der Energieexperte Manuel Frondel vom Essener RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Auch angesichts des Kohleausstiegs sei zu erwarten, dass Anfang 2023 die gesicherte Kraftwerksleistung in Deutschland erstmals unterhalb der maximalen Nachfragelast liege. Die zuständige Bundesnetzagentur werde wohl zusätzliche Kraftwerkskapazitäten für die Reserve bereithalten müssen, „darunter vor allem alte, emissionsintensive Kohlekraftwerke“.
Durch Importe bleibe der Atomstrom relevant in Deutschland, erklärt RWI-Experte Frondel. „Atomstrom wird auch in Zukunft importiert werden, nach dem Abschalten der heimischen AKW sogar verstärkt“, sagt er. „Der Ausbau der Erneuerbaren trägt leider kaum etwas zur gesicherten Leistung bei.“ Tschechien, Polen und Ungarn planten den Bau neuer AKW, aus denen Deutschland voraussichtlich Atomstrom importieren könnte. Nach Angaben der Bundesnetzagentur können „alle europäischen Atomkraftwerke potenzielle Erzeuger für Deutschland sein“.
„CO2-freier Strom aus Atomkraft ist bei uns weitestgehend verpönt“
Tschechien würde seinem Nachbarn Deutschland nach Darstellung von Präsident Milos Zeman gerne helfen, falls es zu Versorgungsengpässen kommen sollte. Sein Land werde sich anschauen, welche Folgen das Auslaufen von Atomenergie und Kohleverstromung in Deutschland haben werde, sagte Zeman kürzlich nach einem Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Prag. „Wenn es zu einem Mangel an Elektrizität kommt, wird Tschechien als bedeutender Exporteur sehr gerne bereit sein, Strom in die Bundesrepublik zu liefern – zu einem vernünftigen Preis.“
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Die Verfügbarkeit und der Preis von CO2-freiem Strom seien auch für die Stahlindustrie entscheidende Wettbewerbsfaktoren, merkte Saarstahl-Chef Karl-Ulrich Köhler bei der Wirtschaftspublizistischen Vereinigung (WPV) an. „CO2-freier Strom aus Atomkraft ist bei uns weitestgehend verpönt. In Frankreich sieht man es anders“, betonte er in diesem Zusammenhang.
„Die derzeitige industriepolitische Untätigkeit ist gefährlich“, warnt der nordrhein-westfälische Grünen-Landesvorsitzende Felix Banaszak. „Gibt es hier nicht eine grundlegende Neujustierung, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Stahlproduktion auf Standorte außerhalb Deutschlands verlagert.“ Niemand könne wollen, dass ein Unternehmen aus Deutschland an französischen Standorten Stahl mit Atomstrom produziere.
RWE-Chef Krebber: „Wir stehen dafür nicht zur Verfügung“
RWI-Experte Frondel mahnt, um die Versorgungssicherheit mit Strom zu gewährleisten, müsse der Netzausbau stark beschleunigt werden – sowohl grenzüberschreitend als auch innerhalb Deutschlands. „Die Anrainer und Eigentümer der Grundstücke, über die die Netze führen, sollten sehr großzügig entschädigt werden, anstatt sie wie derzeit gegen wenig Geld praktisch zu enteignen“, urteilt Frondel. „Ein Blackout kommt uns wesentlich teurer zu stehen als großzügige Entschädigungen.“
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Auch RWE-Chef Markus Krebber fordert, die künftige Bundesregierung müsse das Tempo der Energiewende beschleunigen. Von der Idee, aus Klimaschutzgründen die Atomkraftwerke in Deutschland länger laufen zu lassen, halte er nichts. „Wir stehen dafür nicht zur Verfügung“, sagt Krebber.
Ähnlich äußert sich Kerstin Andreae, die Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Branchenverbands BDEW: „Die Stromerzeugung aus Kernenergie in Deutschland ist Ende 2022 Geschichte – und das ist auch gut so. Niemand in der deutschen Energiewirtschaft will die Atomkraft wiederbeleben.“ Die Unternehmen seien „längst auf Energiewende-Kurs“. Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), betont allerdings, der Ausbau erneuerbarer Energien müsse „endlich“ vorankommen, „ein Turbo beim Ausbau“ sei nötig, sagt sie. „Wir müssen über Einstiege reden, nicht mehr über Ausstiege. Das Atom-Kapitel ist abgeschlossen.“