Essen. Wegen der Thyssenkrupp-Krise wenden sich vier Oberbürgermeister in einem eindringlichen Appell an Kanzlerin Merkel und Ministerpräsident Laschet.

Es ist ein dramatischer Appell von vier Oberbürgermeistern mit großen Thyssenkrupp-Standorten angesichts der schweren Krise des Konzerns: Mit einem eindringlichen Ruf nach staatlicher Unterstützung haben sich die Oberbürgermeister von Bochum, Dortmund, Duisburg und Essen gemeinsam an Bundeskanzlerin Angela Merkel und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (beide CDU) gewandt. „Aus unserer Sicht braucht der Konzern sofortige Hilfe und eine langfristige industriepolitische Unterstützung – unabhängig vom Ausgang des Übernahmeangebots von Liberty Steel, um ohne den andauernden Druck einer Insolvenz wichtige strategische Weichenstellungen im Konzern vornehmen zu können“, schreiben Thomas Eiskirch, Sören Link, Thomas Westphal (alle SPD) und Thomas Kufen (CDU) in einem gemeinschaftlich verfassten Brief an die Kanzlerin und den NRW-Regierungschef.

In dem Brief, der unserer Redaktion vorliegt, erklären die vier Oberbürgermeister, ihnen sei bewusst, dass die Landesregierung das Angebot des britischen Konzerns Liberty Steel zur Übernahme der Thyssenkrupp-Stahlsparte kenne und mit Blick auf das nordrhein-westfälische Unternehmen den Grundsatz verfolge, eine privatwirtschaftliche Lösung einer staatlichen Beteiligung vorzuziehen. „Aber angesichts der akuten Schwierigkeiten – wie zuletzt der angekündigten Schließung des Grobblechwerks in Duisburg und der Ankündigung vom Abbau von 11.000 Arbeitsplätzen – ist eine kurzfristige staatliche Unterstützung des Landes und des Bundes unerlässlich, um Thyssenkrupp durch diese unruhige Phase zu bringen“, appellieren die vier Oberbürgermeister an Kanzlerin Merkel und Ministerpräsident Laschet. „Wir bitten angesichts dieser bedrohlichen Situation um eine schnelle und wohlwollende Entscheidung zugunsten der Arbeitsplätze und einer zukunftsfähigen Industrie mitten in NRW und Deutschland.“

Eiskirch, Kufen, Link und Westphal betonen in ihrem Schreiben die industriepolitische Bedeutung von Thyssenkrupp. „Als Oberbürgermeister der Standortkommunen Essen, Duisburg, Dortmund und Bochum wissen wir, welche Auswirkungen es haben würde, wenn der Stahlriese Thyssenkrupp schwankt oder gar fällt.“ Mit Thyssenkrupp stehe die Existenz eines wichtigen industriellen Kerns in Europa auf dem Spiel. „In Duisburg ist die Stahlindustrie der größte Arbeitgeber. Hinzu kommt die Vielzahl an Beschäftigten in der Essener Konzernzentrale, in hochmodernen Kompetenzzentren zur Stahlveredelung wie in Bochum und Dortmund sowie bei Zulieferbetrieben und Abnehmern im Ruhrgebiet, in Nordrhein-Westfalen und der gesamten Bundesrepublik.“

Spitzengespräch mit Altmaier und Laschet geplant

Der Brief, der das Datum 4. Dezember trägt, ist von den Oberbürgermeistern wenige Tage vor einem wichtigen Treffen zur Zukunft der Stahlindustrie verfasst worden. Für den 11. Dezember ist ein virtuelles Spitzengespräch geplant, an dem unter anderem Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), Ministerpräsident Laschet und die Chefs der größten deutschen Stahlkonzerne teilnehmen sollen.

Die Gründe der wirtschaftlichen Probleme der Thyssenkrupp-Stahlsparte seien „vielfältig und die bestehenden Probleme wurden und werden durch die Corona-Pandemie nochmals massiv verschärft“, schreiben Eiskirch, Kufen, Link und Westphal. „Der globale Stahlmarkt befindet sich seit Jahren in einem fortgesetzten fundamentalen Wandel, der durch strategische Übernahme- und Konzentrationsprozesse sowie globale Marktbereinigungen gekennzeichnet ist.“ Insbesondere der Einfluss Chinas auf dem globalen Stahlmarkt habe sich so weiter vergrößert: „Kam vor der Corona-Krise etwas mehr als die Hälfte des weltweit erzeugten Rohstahls aus China, so waren es zuletzt etwa 60 Prozent.“

Eiskirch, Kufen, Link und Westphal sehen „grundsätzliche politische Frage“

Die Oberbürgermeister geben zu bedenken, dass der Anteil der industriellen Produktion an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung der traditionellen Industriestaaten in Europa und den USA in den vergangenen Jahren immer weiter zugunsten von solchen Ländern zurückgegangen sei, die unter Kostengesichtspunkten günstigere Standortbedingungen bieten – „oftmals zulasten von ökologischen und sozialen Gesichtspunkten“.

„Die grundsätzliche politische Frage, die sich stellt, ist, ob wir diesen scheinbar naturgesetzlich verlaufenden Veränderungsprozessen tatenlos zusehen wollen, oder ob wir mit beherzten politischen Maßnahmen die ökonomischen und innovationspolitischen Chancen der industriellen Kerne nutzen wollen“, betonten die vier Oberbürgermeister. Vor diesem Hintergrund stelle sich die Frage nach staatlichen Hilfen für Thyssenkrupp Steel „weniger aus einer kurzfristen betriebswirtschaftlichen Überbrückungsperspektive“. Es gehe um die Frage, ob es innovations- und industriepolitische Perspektiven für die verbliebenen Industriekerne in Deutschland gebe. „Das Unternehmen Thyssenkrupp Steel ist aus unserer Sicht ein Präzedenzfall“, betonen die Oberbürgermeister.

„Der Verlust weiterer tausender Arbeitsplätze droht“

Der Aufbau einer funktionierenden Wasserstoff-Wirtschaft sei für eine klimaneutrale Stahlindustrie unverzichtbar, mahnen Eiskirch, Kufen, Link und Westphal. Der Umbau der Stahlsparte zur klimaneutralen Produktion, das Erproben neuer mit Wasserstoff statt Koks oder Gas betriebenen Anlagentypen und auch eine aktive Gestaltung der Märkte für grünen Stahl benötigten „eine langfristige industriepolitische Flankierung“. Denn nach Branchenschätzungen liege der Preisaufschlag pro Tonne grünen Stahl bei etwa 200 Euro. „Der Wechsel zu klimaneutralen Produktionsverfahren würde den Stahl also um rund 50 Prozent verteuern.“

Ohne entsprechende politische Rahmenbedingungen und „eine kurzfristige finanzielle Unterstützung in dieser schwierigen Lage“ werde Thyssenkrupp den eingeschlagenen Weg der Dekarbonisierung nicht weiter erfolgreich verfolgen können. „Der Verlust weiterer tausender Arbeitsplätze droht dadurch“, warnen die Standort-Oberbürgermeister.