Essen. Die IG Metall liebäugelt mit einer Staatsbeteiligung bei Thyssenkrupp. Es dürfe „keine Denkverbote“ geben, sagt Bezirksleiter Giesler.

Den Ort für das Gespräch dürfte die IG Metall mit Bedacht gewählt haben. Nicht in ihrer Frankfurter Zentrale, in einer Konzernmetropole wie München oder der Hauptstadt Berlin meldet sich die Gewerkschaftsführung diesmal zu Wort, sondern in Essen – in einem Kongresshotel unweit des Thyssenkrupp-Quartiers. Als „Pressegespräch über die Wasserstoff-Strategie in der Stahlindustrie“ ist das Treffen angekündigt, für das IG-Metall-Vorstand Jürgen Kerner und NRW-Bezirkschef Knut Giesler viel Zeit mitgebracht haben. Von einem „Zukunftsthema“ spricht Kerner gleich zu Beginn. Doch zunehmend drehen sich die Fragen der Journalisten und die Antworten der Gewerkschafter um Probleme in der Gegenwart. Es geht um die Folgen der Corona-Krise, die Deutschlands Industrie zu schaffen machen – und insbesondere um die Frage: Was wird aus Thyssenkrupp?

Knut Giesler, der Chef der IG Metall in NRW, zeigt sich tief besorgt, wenn er auf den angeschlagenen Traditionskonzern zu sprechen kommt. „Thyssenkrupp ist in Nordrhein-Westfalen systemrelevant“, sagt er. In der Stahlsparte seien 27.000 Mitarbeiter beschäftigt. Hinzu kämen Zulieferer und weitere Firmen. „Wir reden über 100.000 Arbeitsplätze, die am Stahl hängen“, rechnet Giesler vor. Nordrhein-Westfalen sei ohne Stahl nicht denkbar. Daher befinde sich die Politik „in der Verantwortung“.

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Offensiv plädiert Giesler dafür, dass der Staat im Fall einer sich verschärfenden Krise bei Thyssenkrupp Steel als Anteilseigner einsteigen sollte. Auch Kerner, der als stellvertretender Aufsichtsratschef über tiefe Einblicke bei Thyssenkrupp verfügt, lässt Sympathie für ein solches Szenario durchblicken. Je länger die Situation beim Stahl schwierig sei, desto mehr müsse sich die Politik mit dem Thema Staatsbeteiligung befassen.

„Man muss nicht über Nacht Angst um Thyssenkrupp haben“, sagt Kerner und verweist auf den rund 17 Milliarden Euro schweren Verkauf der Aufzugssparte. Die Einnahmen seien aber irgendwann verbraucht, insbesondere wenn die Corona-Krise länger andauere. „Jedes deutsche Stahlunternehmen hat im Moment einen gigantischen Cash-Abfluss“, berichtet der IG-Metall-Vorstand.

IG Metall ruft nach Bundeswirtschaftsminister Altmaier

Thyssenkrupp-Vorstandschefin Martina Merz hat bereits Mitte Mai angekündigt, sie wolle die Chancen für eine Fusion mit einem Konkurrenten ausloten – und zwar „ohne Denkverbote“. Als mögliche Partner gelten der niedersächsische Konzern Salzgitter, der schwedische Stahlhersteller SSAB oder der Europa-Ableger des indischen Konzerns Tata.

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„Wenn Frau Merz sagt, es gibt keine Denkverbote im Stahl, so sage ich, auch bei der Politik darf es keine Denkverbote geben“, sagt Giesler dazu. Als positive Beispiele für eine Staatsbeteiligung verweist er auf Volkswagen und Salzgitter. „Eitelkeiten“ einzelner Akteure müssten überwunden werden.

Kerner betont, auch beim Umbau der Stahlwerke auf eine CO2-freie Produktion sei die Bundesregierung gefragt – und dabei insbesondere Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Derzeit fehle es an einer „ordnenden Hand“.

Chance auf für Unternehmen wie Siemens, MAN und Europipe

Die Zeit dränge, mahnt Giesler. „Eine jetzt verpennte Entscheidung kann 30 Jahre Auswirkungen haben“, bemerkt er angesichts der Investitionszyklen in der Stahlindustrie. Die IG Metall sieht dabei einen gewaltigen Investitionsbedarf. Allein für die Stahlindustrie seien bis zum Jahr 2050 voraussichtlich mehr als 30 Milliarden Euro erforderlich, sagt Kerner. Bei der Berücksichtigung weiterer Branchen gehe es wohl um einen „dreistelligen Milliardenbetrag“.

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Mit dem Umbau von Deutschlands Industrie und Investitionen in die Wasserstoff-Technologie seien aber auch riesige Chancen verbunden, wird bei der IG Metall betont. Dabei gehe es nicht nur um Stahlhersteller wie Thyssenkrupp, Salzgitter und Arcelor-Mittal, sondern auch um Anlagenbauer wie Siemens Energy mit Werken in Mülheim und Duisburg und MAN Energy Solutions mit einem großen Standort in Oberhausen. Auch Röhrenproduzenten wie Europipe in Mülheim könnten profitieren. Ziel müsse eine branchenübergreifende Strategie sein, die von der Stahl- und der Chemieindustrie über Nutzfahrzeughersteller bis hin zur Luftfahrtbranche mit Konzernen wie Airbus reichen sollte.