Essen. Trotz der Corona-Krise treibt der Pipeline-Betreiber OGE Planungen für ein Wasserstoff-Netz voran. So könnte auch Thyssenkrupp versorgt werden.
Thyssenkrupp testet in Duisburg bereits die Stahlproduktion mit Wasserstoff statt Kohle. Bei der Versorgung der Stahlwerke könnte Deutschlands größter Gaspipeline-Betreiber ins Spiel kommen, der Essener Ruhrgas-Nachfolgekonzern Open Grid Europe. OGE-Chef Jörg Bergmann erläutert im Interview mit unserer Redaktion, wie ein großes Wasserstoff-Netz in Deutschland entstehen soll. „Wir müssen beim Wasserstofftransport in ganz anderen Dimensionen denken, wenn wir einen klimaneutralen Umbau der Industrie, des Verkehrs und der Wärmeversorgung erreichen wollen“, sagt Bergmann. Hier lesen Sie das Interview im Wortlaut:
Herr Bergmann, als größter Gaspipeline-Betreiber in Deutschland ist Open Grid Europe für einen wichtigen Bereich der Infrastruktur zuständig. Ist die Corona-Pandemie ein Risiko für die Versorgungssicherheit?
Bergmann: Die aktuelle Situation ist eine gewaltige Herausforderung für uns alle. Als OGE gehören wir zu den Betreibern der sogenannten kritischen Infrastruktur. Insofern verfügen wir über eine hochentwickelte Sicherheitsphilosophie mit einem detaillierten Krisen- und Notfallmanagement. Aktuell schränken wir zum Beispiel den Kontakt unserer Beschäftigten stark ein, der Zugang zu unseren Betriebsstellen ist erheblich reglementiert und dort, wo es geht, setzen wir auf Arbeit im Homeoffice. Wir bewerten die Situation jeden Tag aufs Neue und können schnell auf mögliche Veränderungen reagieren.
Geraten angesichts der Corona-Krise andere wichtige Themen wie der Klimaschutz in Vergessenheit?
Bergmann: Aktuell steht natürlich Corona im Mittelpunkt und bindet nachvollziehbar einen Großteil der gesellschaftlichen und politischen Ressourcen. Ich hoffe, dass wir diese Herausforderung so schnell wie möglich meistern und in den nächsten Wochen auch wieder gemeinsam Zukunftsthemen wie den Klimaschutz anpacken können.
In den Planungen für mehr Klimaschutz in der Industrie spielt Wasserstoff eine große Rolle. Zu Recht?
Bergmann: Die Energiewende wird nicht mit dem Ansatz gelingen, alles elektrisch zu machen. Heute basiert in Deutschland der Energieverbrauch von 2600 Terrawattstunden auf 20 Prozent Elektronen und 80 Prozent Molekülen, wobei neben dem Öl das Erdgas eine wichtige Rolle spielt. Beim Wasserstoff spüren wir ein steigendes Interesse und eine wachsende Nachfrage, beginnend bei der Industrie. Wenn wir wollen, dass sich die Industrie nicht anderswo auf der Welt ansiedelt, müssen wir schnell eine Wasserstoffinfrastruktur aufbauen.
Thyssenkrupp will in Zukunft den Stahl zunehmend auf Basis von Wasserstoff statt Kohle produzieren. Kommen Sie dann ins Spiel?
Bergmann: Wir haben ein dichtes Pipeline-Netz, das künftig auch für die Versorgung der Industrie mit Wasserstoff genutzt werden kann. Bedarf gibt es nicht nur bei der Stahl-, sondern auch in der Chemieindustrie. In Zukunft werden auch Kraftwerke, Lkw und Lokomotiven mit Wasserstoff betrieben.
Können Sie die bestehenden Gasleitungen für Wasserstoff nutzen?
Bergmann: Technisch ist das kein Problem. Aber damit wir Wasserstoff im großen Stil transportieren können, benötigen wir Veränderungen auf der Ebene der Gesetzgebung und Regulierung, unter anderem im
Energiewirtschaftsgesetz. Momentan dürften wir keine reine Wasserstoffpipeline betreiben. Lediglich eine Beimischung in geringen Mengen ist erlaubt. Dies würde kaum ausreichen, wenn die Nachfrage stark wächst.
Unternehmen wie Air Liquide und Linde beliefern schon jetzt die Industrie mit Wasserstoff. Am Stahlstandort Duisburg etwa arbeitet Thyssenkrupp mit Air Liquide zusammen. Möchten Sie den Gase-Spezialisten Konkurrenz machen?
Bergmann: Wir müssen beim Wasserstofftransport in ganz anderen Dimensionen denken, wenn wir einen klimaneutralen Umbau der Industrie, des Verkehrs und der Wärmeversorgung erreichen wollen. Unsere Pipelines haben bis zu 1,20 Meter als Durchmesser. Das Netz ist rund 12.000 Kilometer lang. Damit bieten wir mit unserer Infrastruktur ein riesiges Potenzial für den Klimaschutz.
Die Europäische Union hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2050 eine klimaneutrale Industrie zu etablieren. Wasserstoff ist allerdings nur klimaneutral, wenn er mit Hilfe erneuerbarer Energien hergestellt wird. Gibt es überhaupt genug grünen Wasserstoff?
Bergmann: Davon sind wir heute noch weit entfernt. Wir gehen davon aus, dass wir für einige Zeit an der Nutzung von blauen Wasserstoff, der ebenfalls CO2-neutral ist, nicht vorbeikommen. In 2050 sollte der Wasserstoff ausschließlich grün sein. Wichtig ist, dass wir jetzt anfangen, eine Wasserstoffwirtschaft aufzubauen.
Ihr Geschäft mit dem Gastransport wird von der Bundesnetzagentur reguliert. Beim Wasserstoff gilt derzeit der freie Wettbewerb. Sollte sich dies aus Ihrer Sicht ändern?
Bergmann: Der regulierte Markt hat auch aus Sicht der Verbraucher große Vorteile. Es ist gewährleistet, dass jeder Anbieter von Wasserstoff freien Zugang zu den gleichen Konditionen zum Transportnetz hat. Die Bundesnetzagentur überwacht die Netzentgelte. Beides spricht dafür, die Wasserstoffnetze ähnlich zu regulieren wie bereits die bestehenden Gaspipelines.
Wasserstoff ist hochexplosiv. Wie gefährlich sind der Transport und der Einsatz von Wasserstoff?
Bergmann: Wasserstoff ist wie Erdgas ein brennbares Gas. Wir haben in Deutschland über Jahrzehnte eine besondere Sicherheitsphilosophie etabliert, die auch uns leitet. Wir blicken im Umgang mit brennenden Gasen auf viel Erfahrung zurück. Und auch Wasserstoff ist für uns nicht neu. Das sogenannte Stadtgas früher hatte einen Anteil an Wasserstoff von bis zu 60 Prozent.
Wollen Sie einen Teil der Gaspipelines komplett auf Wasserstoff umstellen?
Bergmann: Bisher können wir bis zu zwei Prozent Wasserstoff beimischen. Der nächste Schritt wäre, direkt bei bestimmten Leitungen auf 100 Prozent Wasserstoff umzustellen. Gemeinsamen kommen die Gasfernleitungsbetreiber in Deutschland auf ein Netz von rund 40.000 Kilometern. Es ist realistisch, mittelfristig davon etwa 6000 Kilometer für Wasserstoff einzusetzen. Das verbleibende Netz könnte zunehmend mit Biogas betrieben werden.
Wie groß sind Ihre Sorgen davor, dass die Bürger Wasserstoffleitungen in der Nachbarschaft ablehnen könnten?
Bergmann: Wir nehmen die Sorgen der Bürger sehr ernst. Je weniger Pipelines neu gebaut werden müssen, desto größer dürfte die Akzeptanz in der Bevölkerung sein.
Die Pläne für den Einsatz von Wasserstoff in Deutschland sind groß, aber an vielen Stellen längst nicht Realität, weil sich viele Projekte nicht rechnen. Wird sich das bald ändern?
Bergmann: Das ist ein Blick in die Glaskugel. Klar ist: Wasserstoff wird gebraucht, um eine klimaneutrale Industrie zu entwickeln. Gratis ist die Energiewende nicht zu haben. Wir müssen jetzt mit der Skalierung im industriellen Maßstab beginnen, damit sich ähnliche Kostenreduktionen wie bei Windenergie und Photovoltaik einstellen. Allein über eine Elektrifizierung sind die Klimaschutzziele nicht zu erreichen. Je mehr Wasserstoff zum Einsatz kommt, desto günstiger und wettbewerbsfähiger wird es.
Das bisherige Gasgeschäft ist hochpolitisch. Die russische Pipeline Nord Stream 2 ist umstritten, die USA setzen dagegen auf Flüssiggas. Steht Deutschland zwischen den Stühlen?
Bergmann: Ich sehe es positiv: Jede zusätzliche Quelle und jede zusätzliche Route erhöht die Versorgungssicherheit und den Preiswettbewerb für das Gas. Das ist gut für uns und unsere Volkswirtschaft.