Essen. Nach etwas mehr als einem Jahr muss Thyssenkrupp-Chef Kerkhoff gehen. Das hat Gründe. Das Vorgehen des Aufsichtsrats indes ist ungewöhnlich.
Guido Kerkhoff ist gerade erst von einer Reise nach Israel zurückgekommen. In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem hat der Thyssenkrupp-Chef einen Kranz niedergelegt. Über den Kurznachrichtendienst Twitter äußert er sich dazu, wie sehr ihn der Besuch beeindruckt hat. „Wir müssen erinnern, Gesicht zeigen und unsere Stimme erheben“, mahnt Kerkhoff. Kurz darauf geht es schon wieder um ganz andere Themen. Am Montagabend erreicht den Thyssenkrupp-Chef ein Anruf, in dem er über seine bevorstehende Ablösung an der Spitze des Konzerns informiert wird.
Tags darauf entsteht konzerninterne Betriebsamkeit. Erklärungen sind vorzubereiten, ein enger Kreis von Führungskräften wird eingeweiht. In der Nacht zum Mittwoch, als die Börsen in Europa längst geschlossen haben, verschickt der Konzern eine Mitteilung, in der auf einer knappen DIN-A4-Seite die Vorbereitungen für einen Führungswechsel verkündet werden.
Nach etwas mehr als einem Jahr muss Kerkhoff wieder gehen
Der Personalausschuss des Aufsichtsrats empfehle dem Aufsichtsrat, mit Kerkhoff „Verhandlungen über eine zeitnahe Beendigung seines Vorstandsmandates aufzunehmen“. Ein Termin für eine Sitzung aller Aufsichtsratsmitglieder ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht fixiert, aber es sind Fakten geschaffen. Schon nach etwas mehr als einem Jahr als Konzernchef muss Kerkhoff wieder gehen.
Ungewöhnlich ist die Lösung für die Nachfolge: Thyssenkrupp-Aufsichtsratschefin Martina Merz soll übergangsweise den Vorstand des Konzerns mit seinen rund 160.000 Beschäftigten führen – für eine Amtszeit von maximal zwölf Monaten. „Sobald der Vorstandsvorsitz neu besetzt wird, kehrt Martina Merz in den Aufsichtsrat zurück“, heißt es in einer vom Unternehmen verschickten Mitteilung.
Während ihrer Entsendung soll der frühere Siemens-Manager Siegfried Russwurm, der bereits Thyssenkrupp-Kontrolleur ist, übergangsweise die Funktion des Aufsichtsratschefs übernehmen. Russwurm wurde vor einigen Monaten auch als möglicher Vorstandschef gehandelt.
Beschlüsse in Thyssenkrupp-Gremien einstimmig
Nach Informationen unserer Redaktion sind die Beschlüsse in den Konzerngremien einstimmig getroffen worden. Die Vertreter der IG Metall haben dem Führungswechsel also zugestimmt.
Auch die beiden Großaktionäre – die Essener Krupp-Stiftung mit Ursula Gather an der Spitze und der skandinavische Finanzinvestor Cevian – sind eingebunden. Die einflussreichen Anteilseigner äußern sich am Mittwochmorgen in zwei kurz nacheinander verschickten Mitteilungen. „Wir unterstützen die Ernennung von Martina Merz zur Vorstandsvorsitzenden voll und ganz“, sagt Cevian-Partner Lars Förberg. „Wir erwarten, dass die neue Führung den von Thyssenkrupp so dringend benötigten Transformationsprozess beschleunigen und die Qualität der Umsetzung maßgeblich verbessern wird.“ Die Sätze lassen sich auch als deutliche Kritik an Kerkhoff lesen.
„Martina Merz hat das volle Vertrauen der Stiftung“
Die Krupp-Stiftung kommentiert mit knappen Worten: „Wir haben die Meldung zur Kenntnis genommen. Die weiteren Entscheidungen sind eine Sache des Aufsichtsrates. Martina Merz hat das volle Vertrauen der Stiftung.“
Thyssenkrupp befindet sich in einer schwierigen Situation. Der Konzern schreibt rote Zahlen. Die Stahlwerke und das Autozuliefergeschäft leiden unter dem konjunkturellen Abschwung. Hausgemachte Probleme belasten wichtige Sparten wie den Anlagenbau. Vorstandschef Kerkhoff musste wiederholt die Gewinnprognose für den Konzern nach unten korrigieren.
Bereits vor einigen Wochen war öffentlich geworden, dass Aufsichtsratsmitglieder eine mögliche Ablösung von Kerkhoff erwägen. Der Manager suchte zu diesem Zeitpunkt die Flucht nach vorn. „Wissen Sie, mich totzuschreiben ist nicht besonders schwer, das kann ich sogar selber“, sagte er Mitte August und schickte in einem Interview mit dem „Spiegel“ auch gleich einen lockeren Formulierungsvorschlag hinterher: „Der Kerl ist schon acht Jahre da, hat den Umschwung nicht geschafft und alle alten Entscheidungen mitgetragen, dazu ist er ein trockener Finanzer, und jetzt muss er schon wieder die Strategie ändern.“ Der Zeitpunkt der Ablösung von Kerkhoff kommt für viele Führungskräfte dennoch überraschend.
Distanz von Merz und Gather zu Kerkhoff
Kerkhoff scheint das Vertrauen wichtiger Akteure im Konzern verloren zu haben. Die Krupp-Stiftung sei „verlässlich“, wenn sie von der Strategie des Vorstands überzeugt sei, sagte Ursula Gather einmal in einem ihrer seltenen Interviews mit unserer Redaktion. Bei Kerkhoff dürfte diese Überzeugung am Ende gefehlt haben.
Rückblickend auffällig ist: Bei einem Empfang von Thyssenkrupp beim Klavierfestival Ruhr vor wenigen Wochen in der Essener Philharmonie blieben Merz und Gather fern. Gemeinsame Bilder mit Kerkhoff gab es nicht.
Offiziell hat der Aufsichtsrat die Personalien noch nicht beschlossen. Zeitnah soll es eine Sitzung geben.
Merz schreibt Brief an die Thyssenkrupp-Mitarbeiter
Eine wichtigere Rolle im Konzern spielt künftig Klaus Keysberg, der bisherige Chef des Stahl- und Werkstoffhandels. Der Personalausschuss des Aufsichtsrats empfiehlt, Keysberg ab Oktober als zusätzliches Mitglied des Konzernvorstands zu berufen. In dieser Funktion soll sich Keysberg um die Stahlsparte und den Werkstoffhandel kümmern, also um das künftige Kerngeschäft von Thyssenkrupp mit großen Standorten in NRW.
In einem Mitarbeiterbrief, der unserer Redaktion vorliegt, äußert sich Martina Merz zur neuen Situation. „Unser Unternehmen steht vor großen Veränderungen“, erklärt sie. „Sicher ist: Die im Mai 2019 beschlossene strategische Neuausrichtung gilt weiterhin. Wir werden sie zügig und konsequent umsetzen. Wir fokussieren uns weiter auf die Steigerung unserer Performance, ein flexibles Portfolio und eine effiziente Organisation. Damit setzen wir den vom Vorstand eingeschlagenen Weg weiter fort.“
IG Metall will „konstruktiv mit Frau Merz zusammenarbeiten“
Wohlwollende Worte gibt es auch von Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Dirk Sievers, der Mitglied des Personalausschusses des Aufsichtsrats ist. „Wir werden im Rahmen der Strategie und der Grundlagenvereinbarung konstruktiv mit Frau Merz zusammenarbeiten“, sagt Sievers. Der eingeschlagene Weg müsse allerdings schneller und konsequenter umgesetzt werden, damit es gute Perspektiven für möglichst viele Geschäfte gebe.
Mit der Grundlagenvereinbarung hat die Gewerkschaft bei Firmenverkäufen von Thyssenkrupp praktisch ein Veto-Recht. Sollte es beispielsweise zu einer Trennung von der wichtigen Aufzugsparte mit ihren rund 53.000 Beschäftigten kommen, müsste zunächst eine „Fair-Owner-Vereinbarung“ („fairer Eigentümer“) mit der IG Metall getroffen werden.
„Es gibt einen Guido Kerkhoff auch außerhalb von Thyssenkrupp“
Der scheidende Vorstandschef Kerkhoff hat darauf hingearbeitet, über einen Börsengang der Aufzugsparte Geld für den Gesamtkonzern zu erlösen. Allerdings sollte Thyssenkrupp die Mehrheit an dem lukrativen Geschäft behalten. Im Lager der großen Investoren gibt es hingegen dem Vernehmen nach ein großes Interesse an einem Teil- oder Komplettverkauf der Sparte Elevator. Es stellt sich die Frage, ob Kerkhoff diesen Plänen im Wege steht.
„Der Job macht mir Spaß, ich bin motiviert“, hat Kerkhoff noch vor wenigen Wochen gesagt. „Aber ich brauche keinen CEO-Posten in meinem Leben. Ich habe mir meine Unabhängigkeit erhalten, und die ist mir wichtig. Es gibt einen Guido Kerkhoff auch außerhalb von Thyssenkrupp.“ Dass diese Sätze bei einem etwaigen Abschied in den neuen Kontext gestellt werden, dürfte Kerkhoff klar gewesen sein.