Essen. . Gesucht: ein neuer Chef für Thyssenkrupp – oder zumindest ein Interims-Vorsitzender. Der Hiesinger-Rücktritt löst eine Führungskrise aus.

Ein Vorstand ohne Vorsitzenden – das ist selten in Deutschlands Industrie. Nach dem überraschenden Rücktritt von Heinrich Hiesinger wird Thyssenkrupp zunächst einmal ohne Chef geführt. „In dieser für das Unternehmen schwierigen Situation geht es nun zunächst darum, auf Kurs zu bleiben“, sagte Ulrich Lehner, der Aufsichtsratsvorsitzende, nach einer eilig anberaumten Sitzung des Kontrollgremiums im Essener Konzernquartier. Hiesinger hatte die Aufsichtsräte augenscheinlich mit seiner Entscheidung überrascht. Bis ein Nachfolger für Hiesinger gefunden ist, sollen die verbleibenden Vorstandsmitglieder Guido Kerkhoff, Oliver Burkhard und Donatus Kaufmann die Geschäfte führen.

Erstmals nach Monaten äußerte sich auch die Krupp-Stiftung als größter Einzelaktionär des Essener Industriekonzerns. Mit großem Bedauern habe die Stiftung „den überraschenden Wunsch“ von Hiesinger aufgenommen, sein Mandat als Vorstandschef zu beenden. Die Stiftung und auch sie persönlich habe Hiesinger „stets unterstützt, die Vorschläge des Vorstandes begrüßt und sie in den Entscheidungen mitgetragen“, betonte Stiftungschefin Ursula Gather, die auch Mitglied des Aufsichtsrats ist. „Wir verdanken Herrn Hiesinger außerordentlich viel.“

Gegenstimmen im Aufsichtsrat

Von mangelndem Rückhalt durch die Krupp-Stiftung als Rücktrittsgrund war zuvor die Rede. Zumindest habe der größte Einzelaktionär des Konzerns nicht die Unterstützung signalisiert, die Hiesinger wohl erwartet habe, berichteten Insider. Auffällig war, dass sich die Stiftung nicht einmal direkt nach der erfolgten Unterschrift zur Stahlfusion zu Wort gemeldet hatte. Stattdessen gelangte an die Öffentlichkeit, dass es Gegenstimmen im Thyssenkrupp-Aufsichtsrat gab, als über das Bündnis mit dem indischen Konzern Tata entschieden wurde.

Der Druck, der auf Hiesinger lastete, war groß. Er musste befürchten, dass er aus dem Amt gejagt werden könnte. Hiesinger dürfte gespürt haben, dass der Druck des Großaktionärs Cevian und des US-Hedgefonds Elliott bei einem Verbleib im Amt groß gewesen wäre.

„Führungskrise schnell beenden“

Schon seit geraumer Zeit kritisieren Investoren die komplexe Struktur des Industriekonzerns, der unter anderem Aufzüge, Autoteile, U-Boote und Düngemittelfabriken herstellt sowie weiterhin über einen Stahlhandel verfügt. „Nun besteht die Chance, eine neue Strategie zu entwickeln, den Konzernumbau voranzutreiben und damit den Konzern neu auszurichten“, sagte der Portfoliomanager Ingo Speich von der Fondsgesellschaft Union Investment nach dem Rücktritt von Hiesinger.

Die IG Metall sieht insbesondere die Krupp-Stiftung und die NRW-Landesregierung gefordert, um für Stabilität im Unternehmen zu sorgen. „Die Führungskrise muss schnell beendet werden“, sagte der nordrhein-westfälische IG Metall-Chef Knut Giesler im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die Krupp-Stiftung und die Landesregierung mit Armin Laschet an der Spitze müssen Verantwortung übernehmen, damit kein Chaos im Unternehmen ausbricht.“ Laschet ist Mitglied im Kuratorium der Krupp-Stiftung. Mit Blick auf die Nachfolge von Hiesinger sagte Giesler: „Wir brauchen schnell Klarheit, damit keine Arbeitsplätze in Gefahr geraten.“

Angst vor einer Zerschlagung

Auch Markus Grolms, der die Interessen der IG Metall im Thyssenkrupp-Aufsichtsrat als stellvertretender Vorsitzender vertritt, zeigte sich besorgt. „Wir werden nicht zulassen, dass Thyssenkrupp ausgeschlachtet wird“, stellte Grolms angesichts von Spekulationen über eine mögliche Zerschlagung klar. „Wir werden keine Veränderungen ohne soziale Fairness zulassen.“ Auch Grolms sagte, es gehe nun darum, die Situation im Unternehmen zu stabilisieren.

„Das Unternehmen hat eine klare Strategie. Die wird jetzt weiter verfolgt“, erklärte Grolms. „Die Beschäftigten haben ein Recht darauf, dass Vorstand und Aufsichtsrat dafür sorgen, dass die Geschäfte an jedem einzelnen Tag erfolgreich geführt werden.“ Grolms forderte die Aktionärsvertreter auf, sich klar zu positionieren. „Jeder einzelne Eigentümer muss mit offenem Visier erklären, was er will.“ Auch Grolms würdigte die Leistungen Hiesingers: „Er verdient Respekt und Anerkennung dafür, dass es das Unternehmen überhaupt noch gibt.“

„Habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht“

Dass Hiesingers Rücktritt ein spontaner Entschluss war, ist unwahrscheinlich. Als der Manager am Montag in Brüssel seine historische Stahlfusion feierte, dürfte er vermutlich eine Ahnung davon gehabt haben, was die kommenden Tage bringen würden.

Auch in einem Brief an die Mitarbeiter, den Hiesinger am Donnerstagabend verschicken ließ, um seinen Abschied von Thyssenkrupp zu verkünden, schrieb er: „Diese Entscheidung habe ich mir nicht leicht gemacht – ganz im Gegenteil.“ Er gehe diesen Schritt bewusst, „um eine grundsätzliche Diskussion über die weitere Entwicklung“ von Thyssenkrupp in der Zukunft zu ermöglichen. Hiesingers Schreiben endete mit den Worten: „Es war mir eine Ehre, dieses Unternehmen zu führen.“