Die WAZ holte erstmals alle sechs Präsidenten der Kammern im Ruhrgebiet an einen Tisch. Es ging um Gewerbeflächen, Steuern und die Ruhrkonferenz.

Trotz gewaltiger Produktionsrückgänge im Bergbau und zahlreicher Zechenschließungen liegt die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet bei 2,8 Prozent und in Nordrhein-Westfalen sogar bei 0,8 Prozent. Die aufziehende Montankrise alarmiert die Industrie- und Handelskammern im Revier. Am 1. August 1968 legen sie deshalb den ersten gemeinsamen Ruhrlagebericht vor. 50 Jahre und 99 Berichte weiter lädt die WAZ die Präsidenten der sechs Kammern zum ersten IHK-Gipfel in die Essener Zentralredaktion ein, um über die aktuelle Lage zu diskutieren. Im vergangenen Jahr war die Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet zwar zeitweise unter die Zehn-Prozent-Marke gerutscht.

Der Rückzug der Montanindustrie hinterlässt bis heute seine Spuren, wenngleich die Kammern im 100. Ruhrlagebericht betonen, dass sich die hiesige Wirtschaft „in Topform“ befinde. Heute klagen sie über Gewerbeflächennot, Staus, hohe Steuern und marode Brücken und Straßen. Eines hat sich freilich in den 50 Jahren nicht geändert: An den Zusammenschluss zu einer gemeinsamen IHK Ruhr denken die sechs Kammern nicht. Heinz-Herbert Dustmann, Präsident der IHK Dortmund, betont, dass die Kammern der „wirtschaftlichen Vielfältigkeit“ Rechnung tragen sollten. „Das schließt aber Kooperationen nicht aus“, sagt Dustmann.

Benedikt Hüffer, Präsident der IHK Nord Westfalen, geht noch einen Schritt weiter: „Man kann das Ruhrgebiet nicht mehr isoliert sehen. Die Vernetzung mit angrenzenden Regionen wie dem Niederrhein oder dem Münsterland wird in Zukunft immer wichtiger.“

Knackpunkt Verkehr

Ein großes Thema bewegt alle Kammerbezirke: der immer weiter zunehmende Verkehr im Ruhrgebiet und eine Infrastruktur, die den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. „Alle wissen, dass viele Brücken baulich auf der Kippe stehen. Aber niemand ist so richtig vorbereitet“, beschreibt Burkhard Landers (Duisburg) nüchtern die Lage. Seine Schlussfolgerung: „Wir fordern deshalb seit langem einen Stresstest für die Straßen im Ruhrgebiet.“ Dass Planung und Neubau der maroden A-40-Brücke in Duisburg zehn Jahre dauern soll, ist dem IHK-Präsidenten zu lang.

Als eine Ursache für lange Staus hat Stefan Schreiber (Dortmund) ein fehlendes Baustellen-Management für das gesamte Ruhrgebiet ausgemacht. „Wenn auf der A1 eine Ausfahrt gesperrt wird, werden die betroffenen Unternehmen nicht rechtzeitig informiert. Bäume auf der Durchgangsstraße werden gefällt und niemand sagt vorher Bescheid“, kritisiert er. Gerald Püchel (Essen) übt scharfe Kritik an der Politik: „Nach 30 Jahren der politischen Kraftlosigkeit gibt es noch immer nicht den Lückenschluss auf der A 52 zwischen Marl und Essen.“

Knackpunkt Gewerbeflächennot

Auch die Gewerbeflächennot plagt nahezu jede Stadt. „Doch dieses Problem scheint in der Politik noch nicht mit der notwendigen Dringlichkeit erkannt worden zu sein. Die Städte müssen selbst entscheiden, ob sie zusätzliche Flächen ausweisen. Dazu brauchen sie aber politischen Mut. Im Hinblick auf zu erwartende Bürgerproteste sind die Wahlzyklen viel zu kurz“, kritisiert Jutta Kruft-Lohrengel (Essen). Sollten die Städte keine zusätzlichen Flächen ausweisen, sei rechnerisch in 11,4 Jahren Schluss mit den Reserven. Vom neuen Regionalplan, den der Regionalverband Ruhr verabschieden will, erhoffe sie sich „die Wirtschaftsfreundlichkeit, die die Region dringend braucht“.

„Im Ennepe-Ruhr-Kreis liegt die Zahl noch freier Industrieflächen schon heute bei null“, unterstreicht Ralf Geruschkat (Hagen). Für ihn bedeutet der Mangel nicht nur, dass Politik reagieren müsse, sondern dass bei der Ansiedlung und Expansion von Unternehmen „Regionen übergreifend“ gedacht werden müsse.

Heinz-Herbert Dustmann setzt darauf, das Image der Industrie aufzupolieren. „Viele Menschen haben keine gute Meinung von der Industrie, gerade im Ruhrgebiet nicht. Wir müssen für eine positive Sichtweise sorgen und den Menschen klar machen, dass es nicht etwa darum geht, was stört, sondern um die Frage, wo die nächsten Arbeitsplätze entstehen“, fordert der Dortmunder IHK-Präsident.

Knackpunkt Gewerbesteuer

Auf den Nägeln brennt den Kammern auch die Gewerbesteuer, die in Ruhrgebietsstädten weitaus höher ist als in Düsseldorf oder Monheim, wohin etwa der Oberhausener Chemiekonzern Oxea seine Zentrale verlegt hat. „Unsere Ruhrgebietskommunen mit Sparhaushalten werden von der zuständigen Kommunalaufsicht angehalten, Steuern und Abgaben für ihre Bürger und Unternehmen heraufzusetzen“, kritisiert Eric Weik (Bochum) den Automatismus.

Stefan Dietzfelbinger setzt auf Hilfe von außen: „Duisburg hat vier Milliarden Euro Schulden angehäuft. Die Stadt wird es niemals allein schaffen, sich zu entschulden“, sagt der Duisburger IHK-Manager. Er hat aber Zweifel, dass es dazu einen bundesweiten Konsens gebe. „Ich sehe aber die Solidarität zwischen den Kommunen bundesweit nicht. Wer gut gewirtschaftet hat, will natürlich nicht benachteiligt werden.“

Fritz Jaeckel (Nord Westfalen) verweist auf wirtschaftlich starke Städte in Bayern und Baden-Württemberg, die mit niedrigen Gewerbesteuersätzen punkten könnten. Ruhrgebietskommunen litten stattdessen darunter, dass „Bund und Land in der Vergangenheit immer mehr Aufgaben auf die Kommunen übertragen haben, ohne ihnen ausreichend Mittel dafür zu geben“.

Knackpunkt Ruhrkonferenz

Hohe Erwartungen knüpfen die Kammern an die Ruhrkonferenz, die die Landesregierung im Herbst starten will. „Uns gefällt, dass es nicht nur eine einzige Konferenz, sondern einen zeitlich nicht limitierten Prozess geben wird“, lobt Jutta Kruft-Lohrengel (Essen) das Format der Ruhrkonferenz und die Einladung an die Wirtschaft, in den geplanten Arbeitskreisen mitzuarbeiten. Die Kammern haben eine klare Vorstellung davon, wie mögliche Resultate der Ruhrkonferenz aussehen sollen: „Investitionen sind für das Ruhrgebiet entscheidend. Sie dürfen aber nicht nach dem Gießkannenprinzip getätigt werden“, sagt Stefan Schreiber (Dortmund). „Wir müssen dafür sorgen, dass die Stärken der Region gefördert werden, müssen aber aufpassen, dass wir uns nicht in Einzelmaßnahmen zerfasern.“

Stefan Dietzfelbinger (Duisburg) formuliert klare Forderungen: „Die Landesregierung muss sich dafür einsetzen, dass zusätzliche Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen ins Ruhrgebiet kommen. Wir fordern auch, dass sich hier ein Bundesunternehmen ansiedelt“, so der Hauptgeschäftsführer. Er hat dabei die von den Kammern in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie eines autonom fahrenden Binnenschiffes auf den Kanälen des Ruhrgebiets im Blick. Dietzfelbinger wünscht sich, dass Forschungseinrichtungen die Studie begleiten.

Gerald Püchel (Essen) plädiert dafür, die Innovationen der Region in einem Pool zusammenzufügen. „Es wäre ein fatales Zeichen, wenn wir darauf setzten, dass nur genug Geld von außen kommen muss“, so der Essener Hauptgeschäftsführer.

Knackpunkt Fachkräftemangel

Obwohl sich die Ruhrwirtschaft aktuell in guter Verfassung fühlt, plagen die meisten Unternehmen Nachwuchssorgen. „Vor allem bekommen wir ein Problem bei betrieblich ausgebildeten Fachkräften. 2030 werden allein im Ruhrgebiet 240.000 Fachkräfte fehlen, 90 Prozent davon werden aus dem nicht-akademischen Bereich sein“, gibt Benedikt Hüffer (Nord Westfalen) zu bedenken. Winfried Neuhaus-Galladé (Bochum) nennt den Schlüssel zum Erfolg: „Wir müssen verdeutlichen, dass ein Studium nicht der einzige Weg zur beruflichen Karriere ist.“ Für Ralf Geruschkat ist es dabei aber auch unerlässlich, dass junge Leute Opfer auf sich nehmen müssen: „Auszubildende müssen mobiler werden, um auch weiter entfernte Stellen annehmen zu können“, fordert er. Das scheitere aber oft auch an der Infrastruktur.

Knackpunkt Existenzgründungen

Und die Zukunft liegt nach Einschätzung der Kammern natürlich auch in den Händen junger Unternehmen. „Das Ruhrgebiet ist ein attraktiver Gründer-Standort, weil wir im Gegensatz zu anderen Ballungsräumen noch bezahlbare Büroflächen haben. Fast jede dritte Unternehmensgründung findet im Revier statt“, sagt Ralf Geruschkat (Hagen). Richtig sei aber auch: „Die Gründerzahlen gehen zurück, was auch mit der guten Konjunktur zu tun hat.“ Potenzielle Gründer gingen heute eher ins sichere Angestelltenverhältnis. Geruschkat: „Wir müssen stärker für eine Kultur des Unternehmertums werben.“

Die Revier-Kammern im Überblick

Die sechs Industrie- und Handelskammern im Ruhrgebiet vertreten 408 000 Unternehmen. Ein Überblick über die Kammern und ihre Präsidenten.

Die IHK Nord Westfalen mit Hauptsitz in Münster deckt den Norden des Landes NRW ab. Zu ihrem Bezirk gehören auch die Ruhrgebietsstädte Gelsenkirchen und Bottrop sowie der Kreis Recklinghausen. Die Kammer vertritt 160.000 Unternehmen. Als Präsident steht Benedikt Hüffer seit 2010 an der Spitze der IHK Nord Westfalen. Der 52-Jährige ist Geschäftsführender Gesellschafter der Unternehmensgruppe Aschendorff – das führende Medienunternehmen in Münster und dem Münsterland. Dazu gehören auch die Westfälischen Nachrichten. Für die Unternehmensgruppe Aschendorff arbeiten 740 Menschen. IHK-Hauptgeschäftsführer ist Fritz Jaeckel.

In der IHK zu Dortmund sind rund 56.000 Betriebe in Dortmund, Hamm und im Kreis Unna organisiert. Rund ein Drittel der Unternehmen sind im Bereich Handel und Kfz-Gewerbe tätig, ein weiteres Drittel stammt aus dem Dienstleistungssektor. Etwa 5300 der Mitgliedsunternehmen sind Industriebetriebe. IHK-Präsident ist seit 2016 der Dortmunder Unternehmer Heinz-Herbert Dustmann. Der 65-Jährige ist Geschäftsführender Gesellschafter der Dula-Werke Dustmann & Co GmbH. Die Dula-Gruppe zählt zu den weltweit führenden Ladeneinrichtern. Zu den Kunden gehören Apple, BMW und Zara. Dula beschäftigt mehr als 1000 Mitarbeiter. Neben der Zentrale in Dortmund-Hombruch gibt es Produktionsstätten unter anderem in Spanien, Russland, den USA und Dubai.
IHK-Hauptgeschäftsführer ist Stefan Schreiber.

Rund 46.000 Betriebe aus Hagen, dem Märkischen Kreis und dem Ennepe-Ruhr-Kreis (ohne Witten und Hattingen) sind Mitglied der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer (SIHK) zu Hagen. Kammerpräsident ist Ralf Stoffels, Geschäftsführer der BIW Isolierstoffe GmbH in Ennepetal. Das 1971 gegründete Unternehmen produziert unter anderem Silicon-Druckschläuche und Dichtungen und hat weitere Standorte unter anderem in China. BIW beschäftigt insgesamt rund 500 Mitarbeiter. IHK-Hauptgeschäftsführer ist Ralf Geruschkat.

Die IHK Mittleres Ruhrgebiet mit Sitz in Bochum vertritt knapp 28.000 Unternehmen aus Industrie, Handel und Dienstleistung in Bochum, Herne, Witten und Hattingen. Kammerpräsident ist seit 2017 der Wittener Unternehmer Wilfried Neuhaus-Galladé (61), Geschäftsführender Gesellschafter des Kran- und Hebezeug-Herstellers J.D. Neuhaus. Der 1745 gegründete Betrieb zählt zu den ältesten familiengeführten Unternehmen in Deutschland und gilt bei einem Exportanteil von 80 Prozent als weltweiter Technologieführer bei pneumatischen und hydraulischen Hebezeugen. J.D. Neuhaus beschäftigt insgesamt 215 Mitarbeiter, davon 160 am Stammsitz in Witten-Heven.
IHK-Hauptgeschäftsführer ist Eric Weik.

Einzugsgebiet der IHK zu Essen ist die MEO-Region – Mülheim, Essen, Oberhausen. In der Kammer sind 52.555 Unternehmen Mitglied. Seit 2013 steht Jutta Kruft-Lohrengel an der Spitze der IHK zu Essen. Sie ist eine der wenigen IHK-Präsidentinnen bundesweit. Die 61-Jährige ist Geschäftsführende Gesellschafterin der Autohaus Kruft GmbH in Oberhausen. Der familiengeführte BMW-Händler entstand 1958 als Tankstelle, die Kruft-Lohrengels Eltern betrieben. Heute arbeiten 68 Mitarbeiter bei der Kruft GmbH. IHK-Hauptgeschäftsführer ist Gerald Püchel.

Die Niederrheinische IHK hat ihren Sitz in Duisburg, ist aber auch für die Kreise Wesel und Kleve zuständig. Insgesamt vertritt die Kammer die Interessen von rund 65.000 Mitgliedsunternehmen. IHK-Präsident Burkhard Landers. Der 62-Jährige führt als alleiniger Gesellschafter die Landers-Unternehmensgruppe in Wesel. Die 150 Mitarbeiter kümmern sich um Werkslogistik, Lagerwirtschaft sowie Ver- und Entsorgung. Das Familienunternehmen wurde 1935 gegründet. Burkhard Landers führt es in der dritten Generation. IHK-Hauptgeschäftsführer ist Stefan Dietzfelbinger.