Essen. . Bundesvorstand Nutzenberger kritisiert die Tarifflucht großer Handelsketten und fordert von der Politik mehr allgemeinverbindliche Verträge.
Nur noch rund 30 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel werden nach den Bedingungen des Flächentarifvertrags bezahlt. Jetzt wollen auch Real und Kaufhof die Lohnkosten drücken. Mit Stefanie Nutzenberger, Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft Verdi, sprach Frank Meßing über Tarifflucht, den verkaufsoffenen Sonntag und den Online-Boom.
Aktuell klagen Kaufhof und Real darüber, dass die Tarifgehälter im deutschen Einzelhandel nicht wettbewerbsfähig seien. Haben sie Recht?
Stefanie Nutzenberger: Ein Unternehmen muss sich ständig sein Sortiment, seine Preise, Kosten und die Konkurrenz anschauen. Diese Faktoren entscheiden wesentlich über die Wettbewerbsfähigkeit. Die Löhne im Einzelhandel sind nicht zu hoch. Eine Forderung nach Lohnabsenkung hin zu Lohndumping ist aus unserer Erfahrung meist die Folge von Managementfehlern.
Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet im Einzelhandel, der seit sieben Jahren Umsatzzuwächse verbucht, so heftig über Löhne gestritten wird?
Im deutschen Einzelhandel gibt es einen massiven Verdrängungs- und Vernichtungswettbewerb, ausufernde Öffnungszeiten, Preiskriege und die Tendenz der Unternehmen, immer mehr Personalkosten zu sparen. Lohndumping entsteht dadurch, dass sich immer mehr Händler den Tarifverträgen entziehen. Und die Politik schaut dabei weg.
Wie wollen Sie gegensteuern?
Es kann doch nicht sein, dass die Gehälter von Verkäuferinnen und Verkäufern mit unseren Steuergeldern aufgestockt werden müssen, weil sie von ihrem Arbeitslohn nicht leben können. Der einzige Ausweg gegen Lohndumping ist, die Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Wir kämpfen seit Jahren dafür, dass die Tarife wirklich für alle Beschäftigten der Branche gelten. Das ist existenziell gegen Altersarmut und gegen den Verdrängungswettbewerb. 2015 wurden 1,4 Milliarden Euro Aufstockungsmittel allein für Beschäftigte von Einzelhandelsunternehmen ausgeschüttet.
Mit dem Kaufhof muss Verdi über einen Sanierungstarifvertrag verhandeln. Was läuft falsch bei der Warenhauskette?
Der Konzern hat in der Vergangenheit schlichtweg nicht auf die Beschäftigten und Betriebsräte gehört, die ganz nah an den Kunden sind. Das Kaufhof-Management hat grobe Fehler gemacht. Dazu gehört die Fehleinschätzung, dass man durch Personalabbau das Unternehmen nach vorne bringt. Es wird aber nun einmal nicht mehr Umsatz gemacht. Der Abbau von Stellen auf der Verkaufsfläche ist der falsche Weg.
Glauben Sie an die Zukunft des Warenhauses?
Absolut. Immer mehr Menschen ziehen in die Städte. Warenhäuser werden dort eine stärkere Nachfrage bedienen.
Real hat den Tarifvertrag mit Verdi gekündigt.Wie wollen Sie als Gewerkschaft weiter einen Fuß in der Tür der SB-Warenhauskette behalten?
Real gliedert seine Beschäftigten in die Metro Services GmbH aus und entzieht sich damit der Tarifbindung im HDE und mit ver.di. Das bedeutet auch Veränderungen für die Mitbestimmung. Wir können nicht erkennen, was diese neuen Strukturen bringen sollen und haben im Vorfeld dieser Entscheidung auf allen Ebenen versucht, mit dem Unternehmen Wege zu suchen, unter anderem zur Absicherung der Arbeitsplätze der Beschäftigten.
Wichtig ist ein Konzept für die Zukunft, um mehr Umsatz zu machen und am Markt zu bestehen. Bis zu 40 Prozent Lohnkosten sparen zu wollen, ist eine plumpe Forderung zu Lasten der Beschäftigen und kein Konzept. Wir haben das Unternehmen aufgefordert, mit uns zu verhandeln. Wer den Beschäftigten zusagt, nach Tarif zu bezahlen, kann auch einen Tarifvertrag mit ver.di unterschreiben.
Die Konzernmutter Metro hat wegen der Lage bei Real und der Schwäche im Russland-Geschäft eine Gewinnwarnung veröffentlicht. War die Abspaltung der Elektronikkette Media Saturn aus Ihrer Sicht eine falsche Entscheidung?
Es wurden Strukturen zerschlagen und mit großem Aufwand zwei neue Unternehmen – Metro und Ceconomy - geschaffen. Wo sind die Vorteile, fragt man sich? Der Beweis muss noch erbracht werden, dass getrennte Wege die jeweiligen Geschäfte besser am Markt positionieren.
Der Handelsverband argumentiert, dass insbesondere kleine Einzelhändler durch den Online-Boom in ihrer Existenz gefährdet seien. Wie können die Mittelständler überleben?
Mittelständler sind dann erfolgreicher am Markt, wenn sie zusätzlich zum stationären Handel auch online gegangen sind. Händler brauchen heutzutage mehrere Vertriebslinien. Global und national agierende Händler treiben den Vernichtungswettbewerb im Handel massiv voran. In diesem Spannungsfeld kann der Mittelstand nur über Beratung, Service und das Angebot unterschiedlicher Vertriebslinien punkten.
Die NRW-Landesregierung erhofft sich von der Ausweitung der verkaufsoffenen Sonntage eine Belebung der Innenstädte. Ist das neue Ladenöffnungsgesetz aus Ihrer Sicht juristisch wasserdicht?
Die Ausweitung schafft noch mehr Rechtsunsicherheit, das zeigen die aktuellen Urteile. Der neue Gesetzestext gaukelt den Kommunen vor, dass sie jetzt bei der Genehmigung mehr Spielräume hätten. Haben sie aber nicht, weil der im Grundgesetz verankerte Schutz des Sonntags auch für das Gesetz in NRW gilt.
Selbst Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck äußerte jüngst im WAZ-Interview Verständnis für offene Läden am Sonntag. Zerbricht die Allianz aus Kirchen und Gewerkschaften?
Die Allianz ist geschlossen und aktiv. Darüber hinaus bin ich sicher, dass auch der Bischof auf dem Boden des Grundgesetzes steht. Als Allianz werden wir weiter gegen ungesetzliche Sonntagsöffnungen vorgehen.
Verdi hat lange um die Zukunft der 16.000 Beschäftigten von Kaiser’s Tengelmann gerungen. Mit Erfolg. Jetzt wird der bisherige Konzernchef Karl-Erivan Haub seit dem 7. April vermisst. Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert?
Es ist immer tragisch, wenn ein Mensch vermisst wird. In der Auseinandersetzung um den Verkauf von Kaiser’s Tengelmann an Edeka und Rewe habe ich Herrn Haub in den Verhandlungen kennengelernt. Von daher gibt es bei mir auch eine persönliche Betroffenheit.