Essen. Eine Bitkom-Umfrage sieht 3,4 Millionen Arbeitsplätze durch die Digitalisierung gefährdet. Unternehmer widersprechen und betonen die Chancen.
Wenn Computer-Programme immer eigenständiger, Roboter intelligent und miteinander vernetzt werden, macht das viele von Menschen besetzte Arbeitsplätze überflüssig. Auch der Onlinehandel ersetzt echte Menschen in echten Läden. Gleichzeitig braucht es Menschen, die derlei Programme und Online-Plattformen entwickeln, die Logistik darauf einstellen und neue Maschinen bauen. Darüber, ob die Digitalisierung mehr Jobs kostet als neue bringt, streiten sich seit Jahren die Geister.
Aktuell sorgt eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom für Aufsehen. Die FAZ widmet ihr die Schlagzeile: „Digitalisierung zerstört 3,4 Millionen Stellen“. Dabei ist sie eher als Mahnung an die künftige Bundesregierung gedacht, es nicht dazu kommen zu lassen. Vielmehr könne Deutschland mit einer entschiedenen Digitalisierungs-Strategie zum Vorreiter der Industrie 4.0 werden.
„Digitale Arbeit im Überfluss“
Diese „Industrie 4.0“ ist kein wissenschaftlicher Begriff und kein international anerkanntes Phänomen. Sondern ein deutsches Schlagwort für die Digitalisierung der Arbeitswelt. Gewerkschafter, Arbeitgeber und Politiker nutzen ihn gern, um die gewaltigen Veränderungen zu umreißen, die den Unternehmen und ihren Beschäftigten bevorstehen. In der Bitkom-Umfrage gaben 30 Prozent der befragten Unternehmen an, Probleme mit der Bewältigung der Digitalisierung zu haben. Jedes vierte sieht sich deshalb gar in seiner Existenz gefährdet, wenn es die Probleme nicht lösen kann. Hochgerechnet auf die Gesamtwirtschaft stellen diese Unternehmen 3,4 Millionen Arbeitsplätze, die somit gefährdet sind. Damit sie eben nicht wegfallen, fordert Bitkom-Präsident Achim Berg auf der Zielgeraden der Koalitionsverhandlungen: „Bei einem schlichten Weiter-so unter einer neuen Großen Koalition darf es nicht bleiben. Wir sind Weltmeister im analogen Geschäft. Das Business von morgen aber ist ausschließlich digital.“
Berg mahnt nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Denn die Umfrage belegt auch eine enorme Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Reaktion. So gibt jeweils eine Mehrheit an, Technologien wie Big Data, Robotik, 3D-Druck oder Blockchain entscheide über die künftige Wettbewerbsfähigkeit, aber nur eine Minderheit nutzt diese Techniken bereits selbst oder plant dies. Berg rät dringend, datengetriebene Geschäftsmodelle zu entwickeln und frohlockt: „Dann haben wir digitale Arbeit im Überfluss.“
Besonders große Sorgen macht sich die Finanzbranche. Ultraschnelle, selbst lernende Programme ersetzen bereits heute vieles, was jahrzehntelang Berater, Versicherungsmakler oder Investmentbanker gemacht haben. Im Maschinenbau sowie in der Pharma- und Chemie-Industrie schreitet derweil die mechanische Automatisierung weiter fort.
Auch NRW-Unternehmerpräsident Arndt Kirchhoff fordert, in den Koalitionsverhandlungen mehr Gewicht auf die Industrie 4.0 zu legen. „Die neue Bundesregierung muss die Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft viel aktiver vorantreiben“, sagte er. Wie in NRW müsse der Wirtschaftsminister auch im Bund sämtliche für die Digitalisierung relevanten Kompetenzen erhalten.
Kirchhoff fordert zudem eine „digitale Bildungsagenda“, um junge Menschen besser auf die neue Arbeitswelt vorzubereiten. Unverzichtbar sei natürlich auch ein flächendeckender Anschluss an leistungsfähige Datenautobahnen, „Ziel muss es sein, bis zum Jahr 2021 alle Industrie- und Gewerbegebiete an das Gigabitnetz anzuschließen“, so Kirchhoff.
Jeder zweite Job verändert sich
Die Sorge vor massenhaft wegfallenden Jobs teilt er nicht. Zwar werde sich jeder zweite Industriearbeitsplatz verändern, aber nicht zwangsläufig wegfallen. Manche Tätigkeiten würden überflüssig, dafür aber auch neue entstehen. „Es wird weniger Menschen geben, die Maschinen bedienen, aber mehr, die welche entwickeln.“
An Hoffnung mangelt es auch in der Bitkom-Umfrage nicht: Trotz der vielfach empfundenen Bedrohung für die eigene Firma glauben 86 Prozent der befragten Unternehmen, dass die Digitalisierung grundsätzlich eher eine Chance als ein Risiko für den Standort Deutschland darstellt.