Washington/Seattle. Kassenlose Supermärkte und „Drive-In-Schalter“: Amazon dringt mit Innovationen ins Lebensmittel-Gewerbe vor. Das löst auch Kritik aus.
- Online-Händler plant kassenlosen Supermarkt mit Grundnahrungsmitteln
- Kameras und künstliche Intelligenz sollen Einkauf erfassen und automatisch abrechnen
- Konsumforscher fürchten, dass Automatisierung viele Arbeitsplätze vernichten könnte
Kurz vor Feierabend. Die Schlange im Supermarkt ist wieder endlos. Der Vordermann hat die Einkäufe für den ganzen nächsten Monat im Gitterwagen. Neben ihm verlangen Kinder von ihren Mütter nach süßer Quengelware.
Vorn an der einzigen Kasse verdreht die gestresste Kassiererin die Augen, weil ein „Ich hab’s-passend“-Kunde in aller Seelenruhe nach Münzen kramt. Geht es nach dem Handelsriesen Amazon, gehört das vielleicht freudloseste Kapitel des Einkaufens bald der Vergangenheit an.
Amazon will stationären Handel revolutionieren
Am Stammsitz Seattle an der amerikanischen Westküste eröffnet der Platzhirsch im Online-Handel Anfang nächsten Jahres einen nur 180 Quadratmeter großen Pionierladen, in dem es weder Staus noch Kassenzettel gibt.
Der Kunde erhält über eine App auf dem Smartphone Zutritt, was Ladendiebe ausschließen soll, nimmt sich nach Belieben von Sensoren gesicherte Lebensmittel aus dem Regal, packt sie direkt in seine Tasche – und geht. Auf dem Weg zum Auto oder Bus liefert ein kurzer Blick aufs Handy die digitale Rechnung. Der Betrag wird vom Amazon-Konto abgebucht. Fertig.
Das Projekt „Amazon Go“ an der 7. Avenue in der Innenstadt Seattles, das gerade nur für Beschäftigte des Konzerns im Probebetrieb angelaufen ist, gehört zu einem breit gefächerten Experiment. Der Riese will den stationären Handel revolutionieren und sich so eine möglichst große Scheibe vom jährlichen 800 Milliarden-Dollar-Kuchen in den USA abschneiden.
Fortführung des fahrerlosen Autos
Der kassenlose Supermarkt, in dem zunächst nur Grundnahrungsmittel wie Brot, Milch, Obst, Butter und frisch zubereitete Gerichte für die Mittagspause angeboten werden sollen, ist technologisch die Fortführung des fahrerlosen Autos.
„Mit Kameras und künstlicher Intelligenz soll der komplette Einkaufsvorgang gesteuert werden“, heißt es inoffiziell aus dem Unternehmen. Überlegt ein Kunde es sich anders und stellt ein bereits eingepacktes Produkt wieder ins Regal, erkennt das System das sofort und korrigiert die Rechnung entsprechend.
Verläuft der Testversuch erfolgreich, erwägt Amazon die Einrichtung von rund 2000 solcher Geschäfte in den USA, schreibt das „Wall Street Journal“. Was automatisch die Gewerkschaften auf den Plan rufen würde.
Kassierer, die meisten sind Frauen, stellen laut Arbeitsministerium mit 3,5 Millionen Angestellten die zweitgrößte Beschäftigungsgruppe in Amerika. Amazons neues Steckenpferd wäre für sie ein Job-Killer. Konsumforscherin Britt Beamer geht davon aus, dass 75 Prozent des typischen Kaufhaus-Personals von der Automatisierung betroffen sein würde.
Kunden sollen Bestellungen direkt bei Amazon abholen können
Zweites Standbein neben „Amazon Go“ ist der ebenfalls in Kürze in Seattle startende Versuch, Besorgungen des täglichen Lebens noch bequemer zu erledigen. Intern „Project Como“ genannt, sieht der Plan vor, dass sich der Kunde via Smartphone oder Computer frische Lebensmittel bestellen und einen Abholzeitpunkt auf dem Parkplatz eines speziellen Amazons-Geschäft festlegen kann.
Eine Software identifiziert über das Nummernschild den Käufer. Ein Mitarbeiter verstaut die Waren pünktlich im Kofferraum. Der Kunde bleibt wie am „Drive-In-Schalter“ im Auto sitzen und fährt nach Hause. Abgerechnet wird über den virtuellen Warenkorb digital und bargeldlos.
Eine dritte Variante, die Amazon bisher nur auf dem Papier als Pilotprojekt gebaut hat, sind bis zu 4000 Quadratmeter Verkaufsfläche bietende Supermärkte, die sich an der spartanischen Funktionalität der auch in USA erfolgreichen deutschen Aldi-Kette orientieren. Auch hier soll es intelligente Bestell- und Abholsysteme geben, berichtet die „Seattle Times“.
Kaufhausketten werden auf Amazons Pläne reagieren
Ob und wann Amazon im Lebensmittel-Gewerbe in die Fläche geht, steht noch in den Sternen. Der von Multimilliardär Jeff Bezos geführte Konzern, der zuletzt 100 Milliarden Dollar Jahresumsatz gemacht hat, lässt sich bei Innovationen fiel Zeit.
Einem ersten physischen Buch-Laden im Studentenviertel von Seattle hat der umstrittene Buchhandlung-von-nebenan-Killer bisher in ganz Amerika nur zwei weitere folgen lassen. Zwei Läden in Boston und Chicago sind in Planung.
Gleichwohl lösen Zukunftspläne von Amazon, ähnlich wie beim E-Auto-Pionier Elon Musk, in den traditionellen Branchen-Unternehmen regelmäßig Betriebsamkeit aus. Kaufhausketten wie Target und Wal-Mart versuchen ihrerseits mit intelligenten Lösungen auf das veränderte Kaufverhalten gerade jüngerer Kunden zu reagieren.
Läden zu Erlebniswelten machen
Dass Amazon mit seiner „Brick and Mortar“-Strategie (Geschäfte aus Stein und Mörtel) die Grenzen des Online-Handels gerade bei Lebensmitteln trotz Lieferdiensten (demnächst auch noch per Drohne) austestet, müsse darum „sehr aufmerksam beobachtet werden“, sagen Analysten des Magazins Forbes.
Auch in Deutschland (Umsatz bei Lebensmitteln: 180 Milliarden Euro pro Jahr) ist man sensibilisiert. Rewe-Chef Alain Caparros sagte kürzlich in einem Spiegel-Interview: „Wir müssen uns neu erfinden. Wenn Dienstleister wie Amazon den Leuten in Zukunft das volle Sortiment nach Hause liefern, wieso sollte dann irgendjemand an einem Samstagnachmittag mit der ganzen Familie in die Stadt fahren und im Parkhaus 2,80 Euro die Stunde bezahlen? Um einen Einkaufswagen im Lkw-Format mit 200 Liter Fassungsvermögen durch die Gänge zu schieben und am Ende an der Kasse noch Schlange stehen zu müssen? Wir müssen unsere Läden wieder zu Erlebniswelten machen.“