Köln/Bad Hersfeld. Seit vier Jahren wird Amazon regelmäßig bestreikt. Die Ausstände treffen den Konzern aber nur bedingt. Doch auch er hat offene Flanken.
„Die Streiks sind ein Witz.“ Gerrit Heinemann lässt kein gutes Haar an den Plänen der Gewerkschaft Verdi, den Onlineriesen Amazon mit Arbeitsniederlegungen in die Knie zu zwingen – oder zumindest an den Verhandlungstisch.
Heinemann gehört zu den führenden Experten für Internethandel in Deutschland, ist Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Niederrhein in Krefeld und weiß, wovon er spricht. Eine durchschlagende Wirkung des Arbeitskampfes vermag er nicht zu erkennen. Amazon habe das alles längst einkalkuliert, betont der Wissenschaftler.
Alljährliche Streiks im Weihnachtsgeschäft
Vor wenigen Tagen hatte Verdi erneut zu Arbeitsniederlegungen an den deutschen Logistikstandorten aufgerufen, auch am bundesweit größten im osthessischen Bad Hersfeld. Das war keineswegs neu. Streiks bei Amazon sind inzwischen zu einem Dauerbrenner geworden und werden seit vier Jahren alljährlich im Weihnachtsgeschäft hochgefahren.
Verdi fordert einen Tarifvertrag nach den Bedingungen des Einzel- und Versandhandels für die 11.000 Beschäftigten in den Warenlagern, bessere Arbeitsbedingungen und ein Ende von „Unternehmenswillkür“. Doch Amazon, das sich als Logistiker sieht, stellt sich quer.
Verdi will Betrieb empfindlich stören
Während der Versandriese selber von einer „überschaubaren“ Beteiligung spricht, gibt sich Thomas Voß kämpferisch: „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Arbeitsabläufe erheblich betroffen waren und Amazon sein Kundenversprechen nicht immer einlösen konnte“, resümiert der Verdi-Experte für Versand- und Onlinehandel.
Pro Schicht sollen sich im Schnitt nach seinen Angaben 20 bis 30 Prozent der Mitarbeiter am Austand beteiligt haben. Und er kündigte für die kommenden Wochen weitere Streikmaßnahmen an. Flexibel wolle Verdi reagieren und dort streiken, wo die Auftragsvolumen hoch seien.
31 Logistikzentren in sieben Ländern
Doch auch den Gewerkschaftern schwant nichts Gutes. Denn eine Flanke ist völlig offen: Die Logistikzentren im Ausland und das weit verzweigte internationale Netzwerk des Versandhändlers. „Amazon ist so aufgestellt, bei streikbedingten Engpässen aus Logistikzentren im benachbarten Ausland liefern zu können“, sagt beispielsweise Kai Hudetz, Geschäftsführer des Kölner Instituts für Handelsforschung, der Deutschen Presse-Agentur. Dabei verweist er auf Logistikzentren unter anderem im benachbarten Tschechien und Polen.
In Deutschland betreibt Amazon neun Logistikzentren, die Teil des europäischen Netzwerks sind. Im osthessischen Bad Hersfeld befindet sich der bundesweit größte Standort mit gleich zwei Warenlagern. Das gesamte europäische Netzwerk verfügt nach Angaben von Amazon über 31 Logistikzentren in sieben Ländern.
Verstärkter Einsatz von Robotern
Mittelfristig sieht Hudetz einen weiteren Hebel, um streikbedingte Auswirkungen zu vermeiden, aber auch um Kosten im margenschwachen Online-Geschäft zu reduzieren. Nämlich: die weitere Automatisierung und der verstärkte Einsatz von Robotern in den Logistikzentren.
Die Kunden verlangten eine ausfallsichere Logistik, betont Hudetz, sonst „wird es für das Unternehmen gefährlich“. Das aufgebaute Vertrauen stünde dann auf dem Spiel. „Uns ist wichtig, unser Lieferversprechen einzuhalten“, beteuert auch Amazon-Sprecherin Anette Nachbar.
Standorte helfen sich gegenseitig aus
Tatsächlich scheinen die Nadelstiche von Verdi den Onlineriesen kalt zu lassen. Der US-Konzern baut sein Netz an Logistikstandorten aus, unter anderem in Dortmund (NRW) und Frankenthal (Rheinland-Pfalz). Bei Auftragsspitzen, wie jetzt um die Weihnachtszeit, helfen sich die Standorte gegenseitig aus.
Dabei biete das Unternehmen attraktive Arbeitsplätze und zahle gute Löhne am oberen Ende des Branchenüblichen. Deshalb möchte der Onlinehändler die Gewerkschaft aus dem Betrieb heraushalten. Und dann redet Nachbar Tacheles und bringt den Konflikt aus ihrer Sicht auf den Punkt: „Amazon und Verdi passen nicht zusammen.“ (dpa)