Berlin. Deutsche Firmen und Verbraucher sind nach der Brexit-Entscheidung verunsichert. Was die Regierung plant und was Bürger wissen müssen.

An Warnungen vor den wirtschaftlichen Folgen eines EU-Austritts der Briten hat es vor der Abstimmung nicht gemangelt. Der Grundtenor: Großbritannien wird der Verlierer sein, aber auch an der deutschen Wirtschaft wird ein Brexit nicht spurlos vorübergehen. Antworten auf die wichtigsten Fragen:

Worauf muss sich die deutsche Wirtschaft einstellen?

„Ein Schlag ins Kontor“, nannte Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), die Entscheidung der Briten. Der Außenhandelsverband spricht von einer Katastrophe. Besonders die Kfz-Branche hat Angst vor Handelsschranken. Das Vereinigte Königreich ist das größte Zielland für Autoexporte aus Deutschland mit gut 820.000 Auslieferungen im vergangenen Jahr. Vieles hängt nun von den Verhandlungen in der zweijährigen Übergangszeit ab. Ökonomen dringen darauf, dass Großbritannien so weit wie möglich in den Binnenmarkt integriert bleibt. Im schlimmsten Fall aber müssen die Unternehmen künftig Zölle zahlen oder haben Probleme, Personal zwischen den Standorten auszutauschen, weil die EU-Regeln für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht mehr gelten. Der Brexit kostet Deutschland Fachleuten zufolge zwischen 0,2 und 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Womit rechnet die Bundesregierung?

Bislang bekam Deutschland zusammen mit Briten und Nordeuropäern eine Sperrminorität im Europa-Rat zusammen, um die EU auf Marktwirtschaftskurs zu halten. Das wird nun deutlich schwerer, ebenso wie die Verhandlungen über die geplanten Handelsabkommen TTIP (USA) und Ceta (Kanada). Klar ist auch, dass Deutschland mehr in den EU-Haushalt einzahlen muss, wenn Großbritannien als drittgrößter Nettozahler der EU entfällt. Die Rede ist im Umfeld der Regierung von rund drei Milliarden Euro im Jahr.

Ein internes Papier der Bundesregierung, das dieser Redaktion vorliegt, geht zudem von einer längeren „Phase der Unsicherheit“ an den Finanzmärkten aus. Hilfsbedarf für die deutsche Wirtschaft, falls die Konjunktur einbricht, sieht die Regierung allerdings nicht. Dem Bericht aus dem Hause von Wolfgang Schäuble (CDU) zufolge, ist man zu einer Vertiefung der Eurozone nur dann bereit, wenn es zu einer Änderung der EU-Verträge kommt, um die Kontrolle über die Finanz- und Wirtschaftspolitik zu stärken. „Mitgliedsstaaten dürfen nicht aus der Eigenverantwortung für stabile Haushalte und wachstumdfreundliche Strukturreformen entlassen werden“, heißt es. Schäubles Berater warnen auch vor zu vielen Kompromissen gegenüber London. Es dürfe keinesfalls „einen Automatismus beim Zugang zum EU-Binnenmarkt“ geben, um keine falschen Anreize zu setzen.

Wie reagieren deutsche Unternehmen, die in Großbritannien viele Geschäfte machen?

Die Folgen des Brexit sind für viele Unternehmen noch nicht genau absehbar, der Autobauer BMW, die Energiekonzerne Eon und RWE sowie die Deutsche Telekom, die große Standorte in Großbritannien haben, sind zurückhaltend. Aber es gibt Tendenzen. Wichtigstes deutsch-britisches Projekt ist derzeit die Fusion der Deutschen Börse mit der London Stock Exchange. beide Unternehmen halten daran fest. Allerdings will die hessische Börsenaufsicht jetzt genauer hinsehen – sie kann das Projekt im Wert von 25 Milliarden Euro stoppen. Eine Schwierigkeit: Der Sitz der neuen Dachgesellschaft soll London sein.

Joe Kaeser, Chef des Elektrokonzerns Siemens, hat bereits angekündigt, weiter wie in den vergangenen 170 Jahren auch Geschäfte auf der Insel zu machen – möglicherweise wird künftig woanders in neue Standorte investiert.

Die Deutsche Bahn, für die 33.000 Beschäftigte in Großbritannien vor allem bei der Nahverkehrstochter Arriva arbeiten, rechnet mit deutlichen wirtschaftlichen Folgen. Die Deutsche Bank, mit rund 8000 Beschäftigten in London vor allem im Investmentbanking, litt an der Börse. Der Kurs der Aktie stürzte am Freitag zeitweise um mehr als 13 Prozent ab. Chef John Cryan, selbst Brite, kündigte an, die Bank werde den Handel mit Euro-Staatsanleihen aus London abziehen.

Kann Deutschland auch profitieren?

Ohne die hinter Deutschland zweitgrößte Volkswirtschaft der EU schrumpft die Wirtschaftsleistung der EU um rund 2,6 auf 11,7 Billionen Euro, Deutschlands Gewicht als stärkste EU-Volkswirtschaft wird noch größer. Der Finanzplatz Frankfurt/Main wird deutlich wichtiger, weil viele Banken, die bisher ihr EU-Geschäft aus London steuern, einen neuen Sitz in der EU brauchen. Die US-Bank Morgan Stanley begann bereits am Freitag, Mitarbeiter von London nach Frankfurt zu verlegen.

Die beiden großen deutschen Discounterketten Aldi und Lidl, die derzeit den britischen Markt aufrollen und bereits zehn Prozent Marktanteil besitzen, könnten davon profitieren, dass die Kaufkraft der Briten schwach ist.

Was muss ich als Anleger jetzt tun?

„Einfach innehalten“, lautet der Rat des Hauptgeschäftsführers der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz. Marc Tüngler sagte dieser Redaktion: „Es handelt sich beim Brexit nicht um einen zweiten ‚Fall Lehman‘. Dann hätten die Märkte noch viel stärker reagiert. Die Pleite der US-Bank löste 2008 die Finanzkrise mit aus. „Wir können absolut nicht empfehlen, aufgrund des Brexit in den nächsten Tagen eine Anlage zu machen oder nicht zu machen.“„Besonnenheit ist das Gebot der Stunde“, rät auch Michaela Roth, Sprecherin des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes. Unmittelbar gebe es keine Notwendigkeit, etwas an bereits getroffenen Anlageentscheidungen zu verändern. „Wir sprechen über langfristige Entscheidungen, daher sollten Sparer unbedingt ruhig bleiben.“

Was muss ich als Reisender beachten?

An den Einreisebestimmungen wird sich laut Bernd Krieger, Leiter des Zentrums für Europäischen Verbraucherschutz Deutschland, vorerst wohl nichts ändern. Großbritannien gehört nicht zu den Staaten des Schengener Abkommens an, bei der Einreise gibt es schon jetzt strengere Kontrollen.

Reisende müssen allerdings damit rechnen, dass künftig höhere Roaming-Kosten auf sie zukommen könnten. Innerhalb der EU sollen 2017 zwar die Roaming-Kosten komplett entfallen. Für Großbritannien müssen Anbieter diese Vorgabe aber theoretisch nicht umsetzen, sagt Thorsten Neuhetzki vom Telekommunikationsportal „Teltarif.de“.

Günstiger wird dagegen zunächst der Urlaub in Großbritannien: Das Pfund hat gegenüber dem Euro deutlich verloren, die Kaufkraft der EU-Bürger ist also gestiegen.

Reisen in die USA haben sich allerdings verteuert, denn der Euro-Kurs zum Dollar ist wegen des Brexit deutlich gefallen.

Gibt es weitere Auswirkungen für Verbraucher?

Möglicherweise könnte für Deutsche in Zukunft auch das Auslandsstudium in Großbritannien teurer werden. Statt der „home fees“, die EU-Bürger, die nicht das Erasmus-Programm nutzen, bislang zahlen, könnten – müssen aber nicht – „overseas fees“ fällig werden.

Unklar sind noch die Folgen für den Onlinehandel. Ob etwa das britische Angebot Amazon.co.uk, bei dem viele Deutsche bestellen, und die Onlineportale anderer britischer Anbieter wie dem Modehändler Asos nach dem Austritt der Briten weiter den einheitlichen EU-Regeln zum Verbraucher- und Datenschutz unterliegt, ist unklar – und Teil er Verhandlungen über die Abnabelung des Landes.