Essen. Es ist schon eine komplizierte Dreierbeziehung: Nach Monaten des Streiks und der Kampfrhetorik wirken Bahn und Lokführergewerkschaft bereit zur Einigung. Allein: Jetzt rebelliert die zweite Gewerkschaft im Bunde und droht mit Streik. Was ist diese EVG und wer ist ihr Chef Alexander Kirchner?

In der Eisenbahn- und Verkehrsgesellschaft EVG gibt es einen Arbeitskreis, der sich mit einer äußerst kniffligen Angelegenheit beschäftigt: der eigenen Geschichte. Denn so alt das Gewerkschaftswesen bei der Bahn auch ist - so unübersichtlich war auch lange Zeit das Neben-, Durch- und Gegeneinander der einzelnen Gewerkschaftsorganisationen dort. Als im Jahr 2010 zwei der drei verbliebenen Gewerkschaften zur EVG fusionierten - bis dahin hießen sie Transnet und GdBA - da gab dieser Arbeitskreis Geschichte eine recht zufriedene Festschrift heraus, die die neue Einigkeit in den höchsten Tönen bejubelte und sich gar nicht erst bemühte, das frühere Gewerkschafts-Gemenge übersichtlicher darzustellen, als es war.

Dieser Festschrift ist zum Beispiel zu entnehmen, dass früher nicht nur Beamte und Angestellte ihre eigenen Vertretungen hatten, sondern auch Christen und Sozis, Bayern und Preußen. Und natürlich waren auch einzelne Berufsgruppen lange gesondert vertreten, so wie die Lokführer und ihre Gewerkschaft GDL es bis heute sind.

Groß gegen Klein, DGB gegen dbb, Ossi gegen Wessi

Von den vielen Bahngewerkschaften der Vergangenheit sind heute nur noch EVG und GDL übrig. Wir haben also: eine Einheitsgewerkschaft, die sich rühmt, die Kleinstaaterei fast überwunden zu haben - und eine Spartengewerkschaft, die stolz darauf ist, der letzte verbliebene Kleinstaat zu sein. Die beiden Gewerkschaften unterscheiden sich also in mehr als nur in ihrer Größe.

  • Mitgliederzahlen: Die EVG hatte nach eigener Auskunft im Jahr 2010 240.000 Mitglieder. Die GDL hat nach eigenen Angaben 34.000 Mitglieder.
  • Sitz: Die EVG sitzt in Berlin, die GDL in Frankfurt/Main.
  • Berufsgruppen: Die EVG vertritt alle Berufsgruppen bei den deutschen Bahnunternehmen. Die GDL hat in ihren eigenen Reihen außer Lokführern immerhin auch Zugbegleiter. Inwieweit sie diese im Tarifverfahren vertreten darf, ist Gegenstand des erbitterten Streits 2014.
  • Dachverband: Die EVG gehört dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) an. Selbstverständlich ist das nicht, denn wegen der vielen Beamten in ihren Reihen hätte sie sich auch dem Deutschen Beamtenbund (dbb) anschließen können. Aus demselben Grund ist dies der Dachverband, dem die GDL angehört.
  • Vorsitzender: Die EVG wird von dem Westdeutschen Alexander Kirchner geleitet, die GDL von dem Ostdeutschen Claus Weselsky. Beide sind seit 2008 im Amt.

Während GDL-Chef Claus Weselsky sich im Zuge der Streiks des Jahres 2014 bereits über zu viel (schlechte) Publicity beklagt, ist Alexander Kirchner für die meisten ein unbeschriebenes Blatt. Das könnte sich natürlich ganz schnell ändern, sollte die EVG nun ebenfalls zu Streiks aufrufen.

Der 58-Jährige Kirchner stammt aus Limburg an der Lahn und begann seine Karriere bei der Bahn 1973 als Energieanlagen-Elektroniker. Seit 1991 ist er hauptamtlich für die Gewerkschaft tätig, die damals noch GdED hieß. Als sie sich im Jahr 2000 in Transnet umbenannte, rückte Kirchner in den Vorstand. 2008, fast unmittelbar nach dem skandalumwitterten Abgang des Vorsitzenden Norbert Hansen, wurde Kirchner Transnet-Chef.

Der Skandal um Transnet-Chef Norbert Hansen

Die Vorgänge um den früheren Gewerkschaftschef Hansen sind einer der Gründe, warum die GDL es sich leisten kann, sich so herablassend über die EVG zu äußern, wie sie es bisweilen tut. Als in den 1990er- und 2000er-Jahren die Bahn auf Privatisierungskurs getrimmt und ein baldiger Börsengang angestrebt wurde, waren viele Eisenbahner dagegen - nicht aber die GdED/Transnet. Die Gewerkschaft und ihr Vorsitzender Norbert Hansen unterstützten den Privatisierungskurs des Bahn-Managements geradezu ergeben. Das wurde belohnt: 2008 berief der Bahn-Aufsichtsrat den Gewerkschaftsboss Hansen als Arbeitsdirektor in den Vorstand des Unternehmens – er blieb jedoch nur ein Jahr, dann wurde er mit 2,3 Millionen Euro abgefunden.

Damals war oft von "Verrat" die Rede. Nach Hansens Aufsehen erregendem Abgang nutzte die Transnet den nötigen Neuanfang, um auch ihre Haltung zum Börsengang zu überdenken. Hansens Nachfolger Kirchner, der die Transnet in die Ehe mit der GdBA führte und heute der EVG vorsteht, steht einem Börsengang des Unternehmens inzwischen jedenfalls ablehnend gegenüber. „Jeder, der heute über einen Börsengang diskutiert, tut dies unter völliger Missachtung der Rahmenbedingungen“, erklärte Kirchner etwa Mitte November.

Kirchner fühlte sich von Weselsky persönlich verletzt

Das Verhältnis zwischen Kirchner und Weselsky ist aber nicht nur von den Schlachten der Vergangenheit, sondern auch von jüngeren Verletzungen geprägt. In einer Rede im August fand Weselsky einen völlig unmöglichen Vergleich für die Fusion von Transnet und GdBA zur EVG: "Wenn sich zwei Kranke miteinander ins Bett legen und ein Kind zeugen, da kommt von Beginn an was Behindertes raus", sagte der GDL Chef - eine Äußerung, für die er sich nachher entschuldigte.

EVG-Chef Kirchner zeigte sich dennoch entsetzt - und äußerte sich gegenüber der "Bild am Sonntag" persönlich getroffen. Er habe selber einen Sohn, "der behindert zur Welt kam und in der Folge starb", erzählte der Gewerkschafter.