Kleve. Im Prozess um den „mutmaßlichen Ehrenmord” an Gülsüm S. (20) streiten zwei der drei Angeklagten jede Beteiligung ab.
Auf dem Foto, das von Gülsüm bleibt, trägt sie ein kleines, blaues Amulett: Man nennt es das „Auge der Fatima”, es soll bewahren vor dem Bösen. Gülsüm hat es nicht geschützt. Am 3. März wurde die 20-Jährige umgebracht. Gedrosselt bis zur Bewusstlosigkeit, mit Knüppeln geschlagen, bis von ihrem hübschen Gesicht nichts übrig war. Ein Bauer fand sie an einem Feldweg in Rees am Niederrhein.
Gülsüms Bruder und ihr Vater haben sie beerdigt in der kurdischen Heimat, aus der sie vor 15 Jahren zusammen geflohen sind, und als am Freitag der Prozess beginnt, sitzen sie weinend im Saal: leise schniefend der junge, laut schluchzend der ältere, ein Anwalt muss immerzu Taschentücher anreichen, man versteht den Richter kaum. Tränen um die Schwester, um die Tochter? Der Anklage zufolge sind sie es, die sie auf dem Gewissen haben: „Aus Wut und Verärgerung getötet, um die Ehre der Familie wiederherzustellen”, sagt der Staatsanwalt.
„Mutmaßlicher Ehrenmord”, schreibt sogar das Landgericht Kleve, aber natürlich gibt es das juristisch nicht: Es sei wohl „Schande getilgt worden”, formulierte die Kripo. Die „Schande” war der westliche Lebensstil von Gülsüm S. Einen Freund hat sie gehabt, eine vom Vater vermittelte Zwangsehe in der Türkei annulliert. Überhaupt, der Vater: Mit dem arbeitslosen Bauern, der kaum lesen und schreiben kann, der elf Kinder zeugte und nach den Regeln des Korans erzog, hatte die Tochter häufig Streit. Vergangenes Jahr hatte sie sich deshalb Hilfe suchend an die Behörden gewandt.
Doch an jenem Frühjahrsabend soll der Vater dafür gesorgt haben, dass niemand auf Gülsüm aufpasste: Laut Anklage lockte der weißhaarige 49-Jährige ihre Schwester aus der Wohnung, die seine Drillinge gemeinsam bewohnten, sie sollte dringend eine Glühbirne besorgen. Ihre Abwesenheit nutzte der Bruder, Gülsüm mitzunehmen: Er habe im Feld ihr vermisstes Fahrrad entdeckt. Es war der Tag, an dem der arbeitslose Hilfsarbeiter Davut S. erfahren haben soll, dass seine Schwester eine Abtreibung hinter sich hatte.
„Mord aus Heimtücke”
Vater S. verbirgt das rote Gesicht hinter seinem Taschentuch, als der Staatsanwalt diese Version der Dinge vorträgt, sein Sohn, gehüllt in gleich zwei schwarze Jacken, kriecht fast unter den Tisch. Mord aus Heimtücke und niedrigen Beweggründen wirft man den beiden vor – und einem 32-jährigen Russen, der ebenfalls tief gebeugt an der Saaltür sitzt und vergeblich versucht, einen Blick seines Freundes zu erhaschen.
Miro M., den Davut im Asylbewerberheim kennen lernte, der ohne Familie und ohne Papiere vor zwei Jahren nach Deutschland kam, soll mit den Geschwistern an den abgelegenen Wirtschaftsweg gefahren sein. Er soll auch das Seil mitgebracht haben, das sie Gülsüm von hinten um den Hals warfen: Sie suchte im Gebüsch nach ihrem Rad. Es gibt eine Tatversion, die Davuts Verteidiger im Sommer verbreitete: Danach habe Miro mit den blutverschmierten Stöcken, die die Polizei am Tatort fand, auf die 20-Jährige eingeschlagen. Sie starb an der „massiven Gewalteinwirkung gegen den Schädel”. Im Gericht sitzt auch ein Gutachter, der das erklären soll: Passt ein zertrümmertes Gesicht zu einem Ehrenmord?
Ein Knopf als Indiz
Ohnehin gibt es noch viel zu klären: Wer hat nun wen angestiftet? Der Vater den Sohn, der Russe den Türken? Oder umgekehrt? Davut S. jedenfalls hat bei der Polizei teilweise gestanden, die beiden Älteren lassen vor Gericht wiederholen: Sie streiten ab, beteiligt gewesen zu sein. Gegen Yusuf S. allerdings sprechen die Telefonkontakte am Tatabend mit seinem Sohn. Gegen Miro M. spricht ein Knopf: Er lag neben der Leiche im Laub – und fehlte an einer Jacke, die im Zimmer des Russen hing.
Alle drei aber werden zur Tat nicht aussagen, kündigen die Verteidiger an. Und auch die Familie S. will schweigen: als Verwandte müssen sie sich nicht äußern, Nebenklage reichte niemand ein. „Ich habe zehn Kinder”, hat Yusuf S. die Dolmetscherin sagen lassen, „eins ist verstorben.” An die Stelle, wo Gülsüm ermordet wurde, hat noch letzte Woche jemand frische Rosen gestellt.