Essen. Helmut Rahn wäre am Sonntag 80 geworden. Das „Wunder von Bern” ist mit dem Essener Jungen so untrennbar verbunden wie mit Sepp Herberger, dem „Chef” der legendären 54er Mannschaft.
Der Spruch stammt aus einer Zeit, da Karikaturen-Streit und Wirbel um Mohammed-Zeilen in Vereinsliedern noch weit weg waren. Weil er als wunderbar witzig galt, wurde er – mit wechselnden Namen (Libuda!) – immer wieder kopiert. Deshalb wissen nur wenige, dass das Original aus den 50er Jahren stammt. Damals kritzelten Essener Fußballfans auf Plakat-Wände: „An Jesus kommt niemand vorbei – außer der Boss”.
Der Boss: Gibt es, gerade im Kohlenpott jener Tage, wo die Kumpel die schnörkellose Sprache bevorzugen, einen handfesteren Beweis für Anerkennung als sie Helmut Rahn zuteil wird? Spitznamen verraten viel – auch über die Menschen, die sie vergeben. Für einen „Kaiser” ist die Zeit noch nicht reif. Beliebigkeit, vermeintlich weltmännisches Auftreten und anbiederndes Dauerlächeln sind erst später gefragt.
"Ärmel-Aufkrempeln"
Im Nachkriegs-Deutschland zählen andere Eigenschaften. Zumal im Revier, wo nicht nur die Wiege des deutschen Fußballs steht, sondern auch Begriffe wie „Anpacken” und „Ärmel-Aufkrempeln” geboren werden. Hier verstehen sie unter einem Boss nicht bloß einen Anführer. Sondern jemanden, mit dem man auch mal einen trinken geht. Doch dazu später.
Der Boss ist am 13. August 2003 verstorben. In der Erinnerung der Fußball-Anhänger aber lebt Helmut Rahn, der am Sonntag 80 Jahre alt geworden wäre, als eine der wenigen Persönlichkeiten weiter, die Sport- und Zeitgeschichte verkörpern. Das „Wunder von Bern” ist mit dem Essener Jungen so untrennbar verbunden wie mit Sepp Herberger, dem „Chef” der legendären 54er Mannschaft.
Unberechenbare Urkraft
Möglich wird dieses von Sönke Wortmann verfilmte Wunder, weil der Trainer-Fuchs Herberger vor dem WM-Finale gegen den haushohen Favoriten Ungarn am 4. Juli 1954 intuitiv nicht auf den zuverlässigen Schalker Berni Klodt setzt, sondern auf die unberechenbare Urkraft des Essener Rechtsaußens, der vor der WM nicht erste Wahl war.
„Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen”: Noch heute bekommen Fußballfreunde eine Gänsehaut, wenn sie zum x-ten Mal hören, wie der legendäre Radioreporter Herbert Zimmermann mit vor Erregung vibrierender Stimme das 3:2-Siegtor für Deutschland schildert.
Ein Tor, das die Fußballwelt aus den Angeln hebt. Wichtiger noch: dass ein Land, das neun Jahre nach dem Krieg immer noch am Boden liegt, in Aufbruchstimmung versetzt. Aber auch ein Treffer, der den schlagartig berühmten Schützen wie ein Fluch verfolgt. Über Nacht ist Rahn in aller Munde und vor allem in seiner Heimatstadt nur noch der „Boss”, als den ihn auch Fritz Walter, sein Zimmernachbar in Spiez, akzeptiert.
Stimmungskanone mit Bombenschüssen
Dass der Boss nicht nur Bombenschüsse abfeuert („Bomber der Nation” wird 20 Jahre später mit Gerd Müller ein anderer deutscher Stürmer genannt), sondern auch eine Stimmungskanone ist, hat sich in der Ruhrmetropole längst herumgesprochen. Jetzt, nach dem WM-Triumph, wollen immer mehr Fans gerade diese Eigenschaft ihres Helden persönlich testen.
Irgendwann kommt der Punkt, da Helmut Rahn es nicht mehr ertragen kann, ständig gefragt zu werden, wie es denn damals war, als er sich „die Kirsche” (ein anderes Mal ist von „Pille” die Rede) vom rechten auf den linken „Schlappen” legte. Originalton Rahn: „Ich hab' gar nicht gesehen, wohin der Ball ging. Aber ich wusste, der ist drin, drinner geht's gar nicht.”
Alkohol-Eskapaden – eine davon endet mit einer zweiwöchigen Gefängnisstrafe – säumen künftig seinen Weg, der sportliche Erfolg aber bleibt ihm treu. 1955 wird der Held von Bern in Hannover mit Rot-Weiß Essen Deutscher Meister durch das denkwürdige 4:3 gegen den 1. FC Kaiserslautern. 50 Jahre später setzt der Verein seinem größten Spieler ein Denkmal, das nach dem Abriss des Georg-Melches-Stadions in zwei Jahren auf dem geplanten Helmut-Rahn-Platz vor der neuen Arena stehen soll.
Ehefrau Gerti schirmt ihn ab
Über Köln und Enschede landet der Boss1963 im Gründungsjahr der Bundesliga beim Meidericher SV, bevor er seine Karriere 1964 wegen einer Verletzung beendet. Seine Brötchen verdient der gelernte Automechaniker, der wie fast alle seine Nationalmannschaftskollegen den WM-Ruhm nicht versilbern kann, danach im Neu- und Gebrauchtwagenhandel, den er zusammen mit seinem Bruder betreibt. Die Öffentlichkeit sieht ihn nun kaum noch, seine Ehefrau Gerti schirmt ihn ab. Nur sporadisch kehrt er in seine Stammkneipe ein, gelegentlich schaut er sich Spiele des VfB Frohnhausen an.
Als seine gesundheitlichen Probleme größer werden und sich erste Anzeichen der Alzheimer Krankheit bemerkbar machen, meidet Rahn schließlich selbst die regelmäßigen Wiedersehensfeiern der „Helden von Bern”. Interviews gab der Mann, der in der 84. Minute des Endspiels im Berner Wankdorf-Stadion mitten ins Herz aller Deutschen traf, schon lange nicht mehr.
Aber was gesagt werden musste, war längst gesagt. Und für künftige Generationen gilt ohnehin: Wer über Fußball-Geschichte in Deutschland schreibt, kommt am Boss nicht vorbei.
Zur Person:
Mit Rot-Weiss Essen (1951-1959) feierte Helmut Rahn als Vereinsspieler seine größten Erfolge: Pokalsieger 1953 und Deutscher Meister 1955. Über Köln und Enschede landet der Boss 1963 im Gründungsjahr der Bundesliga beim damaligen Meidericher SV. Dort flog er zwar als erster Bundesligaspieler vom Platz, wurde aber mit dem MSV unter Rudi Gutendorf Vizemeister, bevor er seine Karriere 1964 wegen einer Verletzung nach nur 19 Bundesligaspielen (7 Tore) beendete. In der Nationalmannschaft schoss Rahn in 40 Länderspielen 21 Tore, davon vier bei der WM 1954 und sechs bei der WM 1958.