Warum unser Spaß an der Verkleidung längst nicht mehr auf den Karneval beschränkt ist

"Denn einmal nur im Jahr ist Karneval . . ." Stimmt ja gar nicht! Was Willi Ostermann einst als bierseliges Schunkelstück für närrische Tage erdachte, besaß früher vielleicht mal Gültigkeit. Heute sind wir längst darüber weg: Halloween, Rollenspiele, Mottopartys, Treffen für Film-, Fernseh- und Comicfans. Und und und . . . Die Anlässe zum Verkleiden sind Legion: "Bei uns ist das ganze Jahr Session", sagt Ina Königs vom Kostümversand Maskworld.com.

Wo kommt sie her, die Lust, sich zu verkleiden? Und was macht so eine Verkleidung überhaupt mit uns?

Kleiner Test: Stellen Sie sich vor, Angela Merkel taucht plötzlich und unerwartet bei ihrer Karnevalssitzung auf. Ohgottohgott, was macht man da? Wo setzt man so eine Kanzlerin hin? Wie spricht man sie an? Wie vertraulich darf man werden? Nun stellen Sie sich aber vor, Angela Merkel trägt dabei eine rote Pappnase. "Dann ist der Fall gegessen", sagt Wolfgang Oelsner, von dem dieses Beispiel stammt. "Kumm, Mädsche! Setz Disch. Lossen´s schunkele", würde er diese Situation lösen. Man merkt: Der Mann kennt sich aus mit Psychologie. Er stammt ja auch aus Köln und weiß eine Pappnase unmissverständlich zu deuten. Als Pädagoge und Psychotherapeut arbeitet er, nebenbei schreibt er aber Bücher über seine große Leidenschaft, den Karneval.

Das Beispiel zeigt: Eine Verkleidung reißt die Distanz- und Hierarchiegrenzen ein, die unsere täglichen Rollen diktieren. Und sie eröffnet neue Möglichkeiten. "Es ist ein großes Wort, aber eine Verkleidung bringt uns ein Stück jenseits dessen, was wir sonst sind", sagt Oelsner.

Nun wollen wir an dieser Stelle darauf verzichten, eine küchenpsychologische Deutung abzugeben nach dem Motto: Sage mir, welches Kostüm Du trägst, und ich sage Dir, wer Du bist!

Aber: Mit unterschiedlichen Kostümen lassen sich leicht unterschiedliche Reaktionen provozieren. "Es gibt natürlich Kostüme mit Aufforderungscharakter", sagt Oelsner, "Ein neckisches Krankenschwesternkostüm bei Mädels, das ist doch ein Angebot zu sagen: Schwester, zu Hilfe, mir geht´s ja so schlecht."

Gleiches gilt für den Schornsteinfeger, den die Leute gern fragen, ob sie ihn mal anfassen dürfen. Oder für den Polizisten, der im Karneval seines Amtsernstes närrisch enthoben wird und als williges Bützchen-Objekt herhalten muss. "Im normalen Alltag wäre ein solcher Kontakt unmöglich", weiß Oelsner.

Das klingt nun, als wäre der Karneval eine einzige, große Enthemmung, aber auch das stimmt nicht: "Die Emotionenen liegen zwar frei, schaukeln sich hoch, aber es müssen immer noch Bremsmechanismen gelten. Und die bestehen im Karneval durch die Grenzen der Brauchkultur", so Oelsner.

Im Kostüm fällt eben vieles leichter als sonst, selbst das Körbekriegen. Will sich das Burgfräulein nicht erbarmen, kann man schnell zur nächsten Maskierten eilen. "Die Verkleidung schützt mich vor Ablehnung. Ich kann mir immer noch einreden: Ich bin nicht abgelehnt worden, sondern der mit dem Kuhkostüm. Sie hat nicht die Person an sichgemeint, sondern nur die Rolle."

An dieser Stelle doch ein wenig Küchenpsychologie, aber eine, die durch Verkaufszahlen fundiert ist. Der Kostümrenner der vergangenen Jahre? Der Pirat, zumindest bei Ina Königs. Ein Kerl also, der verwegen ist, draufgängerisch, verführerisch. Und bei den Frauen? "Unser Topseller ist das Sexy-Schneewittchenkostüm." Und natürlich, Batman, Superman, Spiderman, Superwoman. "Jeder möchte ein Superheld sein", sagt Königs. Ein Bedürfnis, das uns so wenig überrascht, weil es auch im Alltag gilt. "Wir leben in einer Gesellschaft, die keine Standesunterschied mehr dokumentiert. Menschen haben aber die Sehnsucht, sich durch Kleidung herauszustellen und ihre Rolle zu optimieren. Über den normalen Zweireiher kann ich auch zeigen, dass ich eigentlich ein toller Hecht bin", so Oelsner.

Wie man so etwas im Berufsleben anstellt, weiß Stilberater Dirk Pfister ganz genau. Er bringt Vertriebs- und Führungskräften bei, wann es etwa passend ist, im Job die Ärmel hochzukrempeln oder am Hemd den obersten Knopf zu lockern. Eben damit umzugehen, wie man Kleidung bewusst einsetzt. Man kennt solche Rangordnungsspiele zwischen Maßanzugträgern in Führungsetagen. Dabei wagt er eine Prognose: "In der Zukunft wird es sich sogar so entwickeln, dass in einer Gruppe der Höchstgestellte eher derjenige ist, der leger gekleidet ist." Und für Berufskleidung gilt, dass man die Idee dessen einkleidet, was man ist: "Man freut sich doch, wenn man im Baumarkt schon von weitem an der roten Latzhose den Mitarbeiter erkennt."

Zurück zur Verkleidung: Am Wochenend ins Kettenhemd, an Halloween als Geist losziehen, die Lust am Rollenspiel nimmt immer neue Formen an. Neueste Entwicklung: Die Computerspieler wollen in die Rolle ihrer Lieblingshelden schlüpfen. "Alle diese Formen bleiben aber inselhafte Ereignisse", sagt Wolfgang Oelsner. Sie finden statt auf Partys, Fantreffen, Mittelaltermärkten. Und sie breiten sich nicht aus wie das Karnevalsfieber. Oelsner: "Das kocht in den Karnevalshochburgen hoch, breitet sich aus in die Region. In Köln dringt das dieser Tage in jede Pore: Die ganze Stadt ist verkleidet." Und weil er solche ungeheuren Dimensionen annimmt, ist er einmal im Jahr eben doch ganz einzigartig, dieser Karneval .

W. Oelsner, "Fest der Sehnsüchte - Warum Menschen den Karneval brauchen", Marzellen, 19,95 €