Berlin/Essen. Roderich Thien spricht regelmäßig mit Bundeswehrsoldaten, die in Afghanistan sind oder waren. Der Oberstleutnant der Reserve ist Vorsitzender des Vereins „Lachen helfen”, einer privaten Initiative von Soldaten, die Kindern in Kriegs- oder Krisengebieten helfen wollen.
Der Essener erzählt, er halte auch engen Kontakt zu einigen „Kameraden, denen es sehr schlecht geht”. Viele Soldaten, die am Hindukusch stationiert waren, kommen äußerlich zwar unverletzt in ihre Heimat zurück, aber, was man nicht sehen kann: Ihre Seele ist schwer verwundet.
„Den traumatisierten Soldaten hilft unser Verein ganz außerordentlich”, sagt Thien. „Weil sie anderen Menschen helfen, können sie mit ihrer eigenen schwierigen Situation besser umgehen.” Angesichts des gefährlichen Einsatzes in Afghanistan ist die Zahl der traumatisierten Bundeswehrsoldaten sprunghaft angestiegen. Das belegt eine Statistik. Auf Drängen der FDP-Bundestags-Abgeordneten Elke Hoff veröffentlichte das Verteidigungsministerium jetzt Zahlen, die eine dramatische Entwicklung dokumentieren.
Albträume, Herzrasen, Schlaflosigkeit, „Flash-Backs”
So hat sich die Zahl der deutschen Soldaten, die an einer „posttraumatischen Belastungsstörung” (PTBS) litten, zuletzt nahezu verdreifacht – von 83 im Jahre 2006 auf 149 im Jahre 2007 und auf 245 im vergangenen Jahr. Allein 411 der insgesamt 477 Soldaten, die an den psychischen Folgen von Gewalt- und Elendserlebnissen erkrankten, waren in Afghanistan stationiert.
Die PTBS äußert sich etwa in Albträumen, Herzrasen, Schlaflosigkeit, Zittern oder sogenannten „Flash-Backs”, bei denen Betroffene schockierende Ereignisse innerlich wiedererleben. Posttraumatisch heißt die Krankheit, weil sie erst Wochen oder Monate nach einem Schockerlebnis ausbrechen kann.
Auch im Film verarbeitet
Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) zeigte sich besorgt über den starken Anstieg der Fallzahlen. Gleichzeitig erklärte sein Ministerium allerdings, die Gesamtzahl von 477 Fällen in den vergangenen drei Jahren entspreche bei fast 62.000 Soldaten im Einsatz einer Häufigkeit von 0,77 Prozent. Winfried Nachtwei, der sicherheitspolitische Sprecher der Grünen, warnte dagegen eindringlich: „Mit der Verschärfung der Sicherheitslage in Afghanistan ist zu befürchten, dass die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten mit PTBS noch ansteigt.”
Kurz bevor die Politik alarmiert wurde, hatte der ARD-Fernsehfilm „Willkommen zuhause” am Montagabend einem Millionenpublikum die Geschichte eines Afghanistan-Heimkehrers nähergebracht. Auch die Filmfigur Ben Winter (gespielt von Ken Duken) ist ein Bundeswehrsoldat, der nur scheinbar unversehrt nach Deutschland zurückgekehrt ist. Seit einer seiner Kameraden bei einem Attentat getötet wurde, plagen Winter unsichtbare Wunden.
Heraus aus der Grauzone
„Eine Verwundung der Psyche wiegt mindestens ebenso schwer wie eine körperliche Verwundung”, gibt Bernd Siebert, der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion, zu bedenken. Auf Antrag der Koalitionsfraktionen, der FDP und der Grünen befasst sich in der kommenden Woche auch der Bundestag mit dem Rückkehrer-Trauma.
Der Bundeswehrverband geht davon aus, dass viele traumatisierte Soldaten aus falscher Scham keine Hilfe in Anspruch nehmen. Der Verbandsvorsitzende Ulrich Kirsch forderte die Betroffenen auf, sich nach dem Schock nicht zurückzuziehen. „Aus dieser Grauzone müssen sie herauskommen, sich öffnen und artikulieren”, sagte Kirsch.
Auch Verteidigungsminister Jung ermunterte die Soldaten, bereits erste Symptome einer posttraumatischen Störung sehr ernst zu nehmen und Hilfe von Experten in Anspruch zu nehmen. Jung kündigte außerdem den Aufbau eines Forschungs- und Kompetenzzentrums an, um Bundeswehrsoldaten mit einem Rückkehrer-Trauma künftig besser betreuen zu können.