London Der legendäre und schwerkranke Post-Räuber wurde trotz fehlender Reue aus der Haft entlassen. Doch sein Tod scheint nahe.
Räuber Ronnie Biggs hat jahrzehntelang nach seinem legendären Überfall auf einen königlichen Postzug auf der Flucht gelebt, und das nicht schlecht. Doch jetzt revanchiert sich die britische Justiz bei dem frechen Ganoven. Biggs, mittlerweile ein gebrechlicher Pflegefall, wird aus der Haft entlassen – aber nur noch in den Tod.
Sein letzter Wunsch war bescheiden: Noch einmal wollte er wie ein braver Durchschnittsbürger in den Badeort Margath fahren, auf der Strandpromenade sein Bier trinken. Doch Biggs, der seit zwei Wochen mit einer schweren Lungenentzündung im Gefängniskrankenhaus liegt, wird diesen Tag nicht mehr erleben.
Justizminister Jack Straw hat ihm vor zwei Monaten mit Verweis auf dessen fehlende Reue die Begnadigung verwehrt. Donnerstagmorgen hieß es dann aus dem Spital in Norfolk, dass Biggs sich wohl von seiner Erkrankung nicht mehr erholen, also sterben würde, abends verkündete Labour-Mann Straw schließlich die überraschende Kehrtwende. Aus „humanitären und medizinischen” Gründen würde Biggs doch entlassen. Einen Unterschied macht das allerdings kaum noch.
Er bleibt ein Gefangener
Die drei Wachmänner am Bett des unbeugsamen Räubers sind gestern morgen zwar abgezogen, doch Biggs bleibt ein Gefangener: Nach mehreren Schlaganfällen kann der Mann nicht mehr essen oder sprechen und ist ans Bett gefesselt. Seinen ersten Tag in Freiheit verbrachte er prompt im OP – gestern ist ihm eine neue Magensonde eingesetzt worden. „Dies ist kein Sieg”, kritisierte sein Anwalt Giovanni Di Stefano, „er wurde nur zum Sterben entlassen.” Immerhin, so berichtet Sohn Michael, habe Biggs die Nachricht der Gefängnisleitung mit einem Lächeln begrüßt.
Die Sache wäre für ihn wohl glimpflicher und seine Begnadigung zügiger verlaufen, hätte er der Krone nicht auf hundert Arten gezeigt hätte, was eine Harke ist. 1963 kapert Biggs mit einem Dutzend anderer Männer den königlichen Postzug auf der Nachtfahrt von Glasgow nach London. Um 2,6 Millionen Pfund erleichtern sie den Zug – Geld, das britischen Bürgern gehörte und nie wieder aufgetaucht ist.
Neues Gesicht verpasst
Zwar werden die meisten Räuber nach dem bis dato größten und filmreifen Überfall gefasst und verurteilt. So auch Biggs – doch im Gegensatz zu seinen Mittätern geht der Londoner Handwerker nach 15 Monaten Haft auf spektakuläre Weise türmen. Über Paris, wo er sich von Schönheits-Chirurgen ein neues Gesicht verpassen lässt, flüchtet er nach Brasilien. Während der reuige Rest der Bande nach zehn Jahren Haft wieder in Freiheit ist, führt Biggs die britische Justiz weiter an der Nase herum.
Wegen lückenhafter Abschieberegeln zwischen Südamerika und dem Königreich ist Scotland Yard machtlos und kann nur zuschauen, wie Biggs als Lebemann das Beste aus der Situation macht. Er verkauft seine Geschichte an Medien und Touristen, nimmt Punksongs mit den Toten Hosen und den Sex Pistols auf, wird selbst gekidnappt und legt sich daraufhin einen Rottweiler mit dem Namen „Blitzkrieg” zu.
Viele artige Bürger gönnen Biggs die Freiheit und amüsieren sich über dessen Frechheit. Der Londoner Kripo-Chef, der ein ums andere Mal vergeblich nach Brasilien reist, um ihn mitzunehmen, geistert stattdessen als Witzfigur durch die englische Boulevardpresse. „Ich habe ein großartiges Leben, mir tut nichts Leid”, schickte Biggs ihm als Echo aus Südamerika hinterher.
Die Sehnsucht nach seiner Heimat lässt den Dieb schließlich 2001 freiwillig zurückkehren. Als der 71-Jährige verarmt und tatterig auf der Insel in Empfang genommen wird, rechnet kaum jemand damit, dass Ronnies wildes Leben etwa kein Happy End nehmen könnte.
Der Senior tritt tapfer den Rest seiner 30-jährigen Haftstrafe an und macht sich wohl Hoffnung, ebenfalls nach zehn Jahren frei zu kommen. Doch bis Donnerstag setzte sich der Justizminister sogar über die Entlassungsempfehlung des Bewährungsausschusses hinweg - zum ersten und einzigen Mal in diesem Jahr.
Biggs' 80. Geburtstag
Heute jährt sich der spektakulärste Diebstahl der englischen Geschichte einmal mehr – 46 Jahre liegt der Raub jetzt zurück.
Es ist gleichzeitig Ronnie Biggs 80. Geburtstag, den er ganz unerwartet in Freiheit erlebt. Es dürfte sein letzter, großer Coup sein.