Essen. Eine Tat, die niemand nachvollziehen kann. So sagt man angesichts des unfassbaren Massakers – dabei ist der Täter durchaus fassbar, zu verstehen. Der Münchner Psychologe Wolfgang Schmidbauer erklärt, welche psychischen Prozessen den jugendlichen Amokläufer motivieren.
Nach dem, was man bisher über den Täter weiß, gleicht das Profil dem anderer Amokläufer?
Schmidbauer: Es scheint sich hier tatsächlich erneut um einen Täter zu handeln, der das Gefühl hat, er ist nicht genug respektiert und anerkannt worden. Typisch ist ebenfalls, dass es wenig Kontakte gab zu anderen Menschen, mit denen dieses Gefühl hätte besprochen und aufgearbeitet werden können. Durch dieses Defizit, dieses Unvermögen, Bindungen aufzubauen, entsteht eine ungeheure Wut auf alle anderen Menschen, die Beziehungen leben können.
Was Sie beschreiben, gilt nicht für Amoktäter allein – was passiert bei diesen Jugendlichen, was macht ihren Narzissmus so explosiv?
Schmidbauer: Zuallerst, ganz simpel, die Faszination für und der Zugang zu Waffen. Auch in diesem Fall gab es diesen Zugang ja offenbar durch die Familie. Damit ist die Fantasie, die vielleicht viele Jugendliche teilen, auch materiell präsent.
Diese Fantasie ist eine von Größe und Bedeutung: Die Waffen dienen dem Selbst als Prothese, sie machen es grandioser, bewundernswerter. Dadurch bekommt der Drang, etwas zu zerstören, nochmals eine andere Qualität – Parkbänke zu zerstören oder Telefonzellen, das geht in die gleiche Richtung, ist aber immer noch eine unmittelbare, vergleichsweise harmlose Handlung.
Sie meinen, ein erster Schritt? Dann wären erschreckend viele Jugendliche gefährdet.
Schmidbauer: Wir reden hier über eine ganz spezielle Persönlichkeit, die sehr stark in einer Fantasiewelt lebt. Sie kann sich ganz schlecht einfühlen, ist sehr wenig entwickelt. 17 Jahre, das ist ein hochgefährliches Alter – die Psyche ist noch sehr kindlich, sie unterscheidet womöglich noch gar nicht so klar, was ist Fantasie und was ist Realität. Die Kritik eigener Taten ist noch nicht voll entwickelt.
Welche Rolle spielt die frühe Kindheit, die Bindung an die Eltern, für das Maß der Zerstörungswut?
Schmidbauer: Sicherlich eine große – wer in den ersten Lebensjahren eine feste, intensive Bindung an die Eltern erfährt und Bestätigung bekommt, leidet weniger unter Selbstzweifeln – und muss diese weniger kompensieren durch Größenfantasien, die den Narzissmus auszeichnen. Wer das nicht erlebt, dem ist es unter Umständen völlig egal, was mit ihm und anderen passiert, weil er nie gelernt hat, sich einzufühlen.
Gäbe es hier bereits einen Ansatz zur Prävention?
Schmidbauer: Dies wäre natürlich ein wichtiger Ansatz bei dem Bemühen, Aggressionen abzuwehren, bei dem Eltern durchaus Unterstützung und Kontrolle erfahren sollten. Derzeit aber wird das Versagen der Familienpolitik, Kinder vor massiven Traumatisierungen durch uninteressierte, unfähige oder perverse Eltern zu schützen, immer wieder deutlich.
Sie haben den Begriff des explosiven Narzissmus geprägt für jugendliche Amokläufer und wenden ihn auch an auf terroristische Attentate. Wie definieren Sie ihn?
Schmidbauer: Ich gehe davon aus, dass jeder normale Mensch die Fähigkeit hat, Kränkungen zu verarbeiten. Der explosive Narzissmus bezeichnet einen Zustand, in dem diese Verarbeitungsfähigkeit kollabiert. In dem jemand sich nicht mehr vorstellen kann, die Kränkungen zu ertragen. Deshalb will er sein Leben auslöschen – und möglichst viele andere Menschen mit in den Tod nehmen.
Warum? Warum reicht es nicht, das eigene Leben zu beenden?
Schmidbauer: Das ist Rache. Der Amokläufer rächt sich an allen, denen es nicht so schlecht geht wie ihm.
Hätte man diesen Amoklauf verhindern können?
Schmidbauer: Jeder, der Kontakt zur Innenwelt des Täters hatte, hätte Gegenkräfte entwickeln können. Manchmal ist es ja auch so, dass auch ohne Intervention nichts passiert – weil der potenzielle Täter keinen Zugang zu Waffen hat, weil er vielleicht erst in den Schützenverein eintreten müsste, einen Waffenschein erwerben müsste und so weiter. Selbst wenn er dies tut, ist er dann ein paar Jahre älter und hat sich weiter entwickelt, hat seine Persönlichkeit so weit entwickelt, dass er nicht mehr gefährdet ist.
Das spricht dafür, den Zugang zu Waffen für Jugendliche erheblich zu erschweren?
Schmidbauer: Unbedingt. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Thema der modernen Waffen, mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Explosionen. Wir haben diese Möglichkeit nicht im Griff – denn unsere Psyche ist noch immer eingestellt auf den Umgang mit Fäusten und Keulen.
Gibt es die Chance, dass die Psyche sich anpasst an die modernen Möglichkeiten, sie damit ungefährlicher werden?
Schmidbauer: Nein. Es ist nicht nur so, dass die kranken, psychisch auffälligen Menschen überfordert sind durch moderne Waffen. Auch der normale, gesunde Mensch wird sie nie wirklich beherrschen.