Essen. Der Bochumer Historiker Henning Borggräfe brachte Licht in ein dunkles Kapitel der Schützenvereine. Bislang hatte sich niemand ernsthaft mit ihrer Rolle in der NS-Zeit beschäftigt. Borggräfe fand heraus: Viele Vereine müssen ihr historisches Selbstbild von der Opferrolle deutlich revidieren.
Sie sind heimatverbunden, traditionsbewusst, schießfreudig und regelmäßig in Feierlaune. Bis heute prägen die Schützenvereine in vielen Orten das Gemeinschaftsleben. Beliebtes Motto: Glaube, Sitte, Heimat. Rund zwei Millionen Mitglieder sind in rund 15.000 Schützenvereinen organisiert. Vor allem in Kleinstädten und Dörfern sind die Vereine auch für Jugendliche attraktiv. Wer lässt sich auf dem Land schon ein Schützenfest entgehen?
Die Tradition der Vereine ist hinreichend bekannt und wird in Vereinsmuseen gepflegt – allein zwischen den Jahren 1933 und 1945 herrscht ein historisches Vakuum, stellte der Bochumer Geschichtswissenschaftler Henning Borggräfe fest. Und er machte sich daran, Licht in das dunkle Kapitel zu bringen.
"Bisher gab es keine seriöse Aufarbeitung"
„Schützenvereine im Nationalsozialismus” lautet der Titel seiner von der Ruhr-Uni Bochum mit einem Preis ausgezeichneten Forschungsarbeit. „Bisher gab es keine seriöse Aufarbeitung der NS-Geschichte der Schützenvereine”, betont Borggräfe. Sein Fazit lautet: Viele Vereine müssen ihr historisches Selbstbild von der Opferrolle deutlich revidieren.
Schützenfest 1934 in Lünen: Feierlich ist das Rathaus der Stadt geschmückt, Hakenkreuzfahnen wehen im Wind. Die Honoratioren der Stadt stehen auf dem Rathausbalkon und erwarten die Ankunft des Schützenkönigspaares – die Arme zum Hitlergruß erhoben.
"Aufbauen, was das Dritte Reich von uns verlangt"
Bundesschießen in Gelsenkirchen 1936: Am Sonntag, dem 27. September, erreicht die fünftägige Veranstaltung ihren Höhepunkt. In der Stadtmitte formiert sich der Festzug mit über 2500 Teilnehmern, mehreren Musikkorps und 20 Festwagen. Die Menschen marschieren quer durch die Stadt zur feierlich hergerichteten Festhalle, ein Portrait des „Führers” wird dort von Reichs- und Schützenfahnen flankiert. Major a. D. Ernst von Cleve, Führer des 1936 neu entstandenen „Deutschen Schützenverbandes” verkündet unter Beifall, dass man „in Einigkeit und Treue zum Führer und zu unserem schönen Schießsport das aufbauen will, was das Dritte Reich von uns verlangt”.
Diese Szenen recherchierte Borggräfe unter anderem in der Verbandszeitschrift „Schützenwarte”, die von der bisherigen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben ist.
Schützenvereine wurden quasi An-Organisationen der NSDAP
1936 wurden alle Schützenverbände und -vereine im „Deutschen Schützenverband” zusammengeführt. „1938 wurden alle Vereine der SA unterstellt und waren quasi An-Organisationen der NSDAP”, sagt Borggräfe. Dieser Maßnahme, betrieben auch von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), hätten sich weniger die Sportschützen, als eher die der Traditionspflege verpflichteten Vereine widersetzen wollen. Dennoch könne nicht allein von „Gleichschaltung” gesprochen werden. „Schon vor 1933 hat man auf den Schützenfesten Wünsche nach einem neuen Führer ausgesprochen und eine geeinte Volksgemeinschaft gefordert.”
Nach der Machtübernahme habe man die Schützenfeste als „Feste der Volksgemeinschaft” inszeniert. Es habe keine personellen Veränderungen in dieser Zeit gegeben. „Man muss die Entwicklung eher als Transformationsprozess begreifen”, sagt der Historiker: eine allmähliche und freiwillige Aneignung und Übernahme der NS-Ziele.
"Hattingen war das braune Nest des Ruhrgebiets"
Teilweise haben die Schützenvereine die Ziele des NS-Regimes aktiv unterstützt. Zum Teil in vorauseilendem Gehorsam, etwa beim Ausschluss der Juden aus den Vereinen 1934. Zum Teil in der „Wehrhaftmachung” der männlichen Jugend. Borggräfe konzentrierte sich auf drei unterschiedliche Vereine: Lippstadt, eine katholisch geprägte Gemeinde. Lünen, wo eher die Linke dominierte. Und Hattingen, evangelisch dominiert und Nazi-freundlich.
„Hattingen war das braune Nest des Ruhrgebiets”, sagt Borggräfe. Schon 1930 habe die NSDAP hier über 30 Prozent der Stimmen bekommen, 1933 mehr als 40 Prozent. „Die Hattinger SA war ebenso stark wie die Essener. Sie wurde mit Lastern zu Wahlkämpfen gefahren. Einer der reichsweit wichtigsten SA-Führer kam aus Hattingen. Die Nazis prägten früh die Stadt.”
Der Autor stellt die drei Schützenvereine in ein neues historisches Licht: „Mit ihrer Gemeinschaftspflege und dem Schießen berührten die Schützen zwei Kernziele des Nationalsozialismus: die Realisierung der Volksgemeinschaft und die Vorbereitung auf den Krieg.” So lautete die Parole der westfälischen Schützen für das Jahr 1939: „Wir kämpfen und schießen für Adolf Hitler und sein Großdeutschland.”