Rom. Die Erdstöße in den Abruzzen in Mittelitalien haben ganze Ortskerne niedergemacht. Auch Stunden später finden Helfer noch Verschüttete.
Es ist kurz vor 15 Uhr, fast zwölf Stunden nach dem schlimmen Erdstoß, da brandet in der Abruzzenstadt L'Aquila Beifall auf. Direkt auf der Straße liegt ein Spitzdach, Überbleibsel eines vierstöckigen Hauses. Alle Etagen darunter sind eingestürzt, Wände zu Trümmern geworden, Möbel in Stücke zerlegt. Acht Familien lebten dort, einige aus dem Schlaf gerissene Bewohner konnten sich retten.
„Hilfe, Feuerwehr, hier bin ich”, viele Stunden hörten Helfer diese Jungmädchenstimme von tief drin. Dann verstummt sie. Doch sie graben weiter, mit bloßen Händen und Spaten. „Maschinen können wir hier nicht benutzen, dann würde das Dach auch einstürzen”, sagt ein Feuerwehrmann. Doch jetzt haben sie es geschafft. Lebend wird sie geborgen, die 21-Jährige, die stundenlang gerufen hatte, eingeklemmt zwischen den Trümmern des dritten und vierten Stocks.
„Eine wunderschöne Sensation!” Simona, eine freiwillige Helferin, jubelt ihre Freude in Mikrofone hinein. Dann geht die Arbeit weiter. Während das Mädchen im Krankenwagen weggebracht wird, graben sie schon wieder nach einer weiteren Anwohnerin. Doch diese hatte nie gerufen.
26 Städte und Dörfer in den mittelitalienischen Abruzzen sind vom Erdbeben direkt betroffen, 10.000 Häuser schwer beschädigt. Und überall gibt es an diesem Montag dramatische Situationen wie jene in L'Aquila, der besonders stark mitgenommenen Regionalhauptstadt mit ihrem wunderschönen historischen Zentrum. Neue und alte Häuser sind eingestürzt bei dem 20-Sekunden-Beben der Richterskala-Stärke 5,8 um 3.32 Uhr, selbst Betonbauten. Selbst Anwohner an der spanischen Treppe in Rom wachten auf, weil ihre Betten wackelten.
Ein Fest, begraben
Vielen in der Erdbebenzone gelang die Flucht, etliche waren gleich tot, noch zahlreiche Menschen liegen begraben unter den Trümmern, vielleicht nur verletzt und bewußtlos. Ein Studentenheim mitten in L'Aquila ist schwer beschädigt, am Vorabend hatte es dort noch ein Fest mit 100 Teilnehmern gegeben. Eine Helferin: „Da liegen noch sechs oder sieben Personen drunter. Einen Studenten konnten wir retten. Sein Handy funktionierte noch, als seine Schwester ihn anrief.”
Trümmerberge überall, Räumfahrzeuge im Einsatz. Ein zweijähriges Kind wird lebend unter dem toten Körper seiner Mutter hervorgezogen - sie hatte sich zum Schutz darüber geworfen.
Woanders sieht es noch schlimmer aus. In Castelnuovo di San Pio delle Camere etwa, einen 1000-Seelen-Dorf in der Provinz, ist vom historischen Kern nichts übriggeblieben. Von der Kirche steht nur noch das Kreuz aufrecht. Gerade in Paganica, wo in 8,8 Kilometer Tiefe das Epizenturm des Bebens ausgemacht wurde, da hatte es noch Sonntag eine Kreuzwegprozession gegeben mit inständigem Gebet, nicht noch schwerere Erdstöße zu schicken. Rund 200 leichte Beben waren schon seit Monaten registriert worden. Das Klarissenkloster dort ist stark beschädigt, gegraben wird nach verschütteten Ordensfrauen und ihrer Oberin.
Hätte die Region angesichts der Vorbeben nicht früh genug evakuiert werden können? Tatsächlich hatte ein Forscher schon vor einer Woche Alarm geschlagen, aber nicht für L'Aquila, sondern für Sulmona, etliche Kilometer entfernt. Professor Enzo Boschi, Chef des geophysikalischen Instituts von Rom,, sagt dazu: „Eine genaue Vorhersage für schwere Erdbeben ist nicht möglich.”
Weite Teile Italiens sind bekanntlich erdbebengefährdet, hier treffen euroasiatische und afrikanische Platte aufeinander. Erdbebensicher zu bauen wie in Los Angeles, das wäre eine gute Vorsichtsmaßnahme, doch die verbreiteten Bauspekulationen haben das oft verhindert. Und gerade Italiens schöne alte Häuser und Kunstmonumente erdbebensicher zu machen – dafür fehlt der Nation auch das Geld.
Hilfe ist gut organisiert
Immerhin ist die Katastrophenhilfe seit dem schweren Erdbeben 1996 in Umbrien bestens organisiert. Knapp 30 Minuten nach dem Beben waren Rettungsmannschaften unterwegs, wurde von Italiens Zivilschutz alles organisiert. „Wir haben bisher alles im Griff”, wehrten Italiens Behörden bisher dankend Hilfsangebote aus vielen Ländern ab.
Schon wird ein Feldlazarett in L'Aquila aufgestellt. Das Krankenhaus San Salvatore gehört zu den beschädigten Gebäuden. „Wir haben schon diese Nacht Schwerkranke in andere Hospitäler bringen lassen und leichte Fälle entlassen”, berichtet ein Arzt. Jetzt ist er dabei, Erdbebenverletzte auf Bahren im Hof zu behandeln, in Erwartung der Fertigstellung des Feldlazaretts.
Regierungschef Silvio Berlusconi ist mittags im Hubschrauber über die Notzone geflogen und sagt: „Wir haben 4000 Bettenplätze in Hotels für Obdachlose parat und weitere 20.000 in Zelten”. Er ließ den nationalen Notstand ausrufen. „Das schwerste Erdbeben Italiens im neuen Jahrtausend”, sagt er und diesmal übertreibt Berlusconi nicht.
Von Stunde zu Stunde steigt die Zahl der Toten, während gleichzeitig die der Vermissten sinkt. Fünf Stunden nach dem Beben sind es erst fünf, dann 27, nachmittags schließlich 92 Tote. Mindestens 1500 Verletzte gebe es und 70.000 Obdachlose, heißt es dann. Doch alle wissen, dass auch diese Zahlen provisorisch sind.