Lancaster. Schwere Vorwürfe werden sich Rudys, aber auch Tobias' Eltern anhören müssen. Ihre Söhne haben gegen die Regeln der streng religiösen Amish- Gemeinschaft verstoßen - mit schlimmen Folgen.
Lancaster. Schwere Vorwürfe werden sich Rudys, aber auch Tobias' Eltern anhören müssen. Ihre Söhne haben gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoßen - mit schlimmen Folgen. Das Auto eines „Engländers”, wie die Amish ihre amerikanischen Nachbarn nennen, hatten sich die beiden ausgeliehen. Allein das war schon ein Frevel. Aber dann hatten sie auch noch einen Unfall verursacht, den Tobias (21) mit dem Leben bezahlte. Rudy (18) bestreitet, am Steuer gesessen zu haben.
Nun ermitteln die Behörden. Auch das ist - neben der Tragödie, ein junges Leben verloren zu haben - ein Albtraum für die „amische Leit”, die nach ihren Selbstverständnis zwar „in dieser Welt leben, aber nicht von dieser Welt sind”. Hätten die beiden Jungs so gelebt, wie es die Tradition dieser alten Religionsgemeinschaft gebietet, wäre es nie zu diesem Drama gekommen. Alte und Junge sind sich darin einig: Autos zu steuern ist bei den Amish in Pennsylvania ebenso verboten wie Fahrräder zu lenken. Damit ist man zu schnell irgendwo anders, in der gefahrvollen Welt mit ihren grellen Versuchungen, die nur von Demut und Gottesfurcht ablenken.
Rollschuhe, Pferdewagen oder Tretroller, die den Bewegungsradius ganz natürlich einschränken, sind erlaubt, wenn man unbedingt meint, irgendwohin zu müssen. Die schwarzen Buggys der Amish, mal als viersitzige Familienkutsche oder in der „Sportausführung” mit lediglich zwei Sitzen, parken in Lancaster wie selbstverständlich neben den PS-starken Pickups der „englischen” Nachbarn.
Tobias und Rudy, die beiden Amish-Jungs, wollten vielleicht nur einmal wissen, wie die Welt hinter Lancaster, der Amish-Hauptstadt knapp 100 Kilometer westlich von Philadelphia aussieht, als sie sich zu ihrem verbotenen Trip verabredeten. Doch jugendliche Neugierde hat keinen Platz im strengen Erziehungskanon der Gemeinschaft, die sich noch heute an die Überlieferungen ihrer Vorfahren klammert, die vor knapp 300 Jahren aus dem deutschen Südwesten in die Neue Welt, in William Penns religiösen Freihafen, übersiedelten. Was Spaß machen kann, das ist verboten. Musikinstrumente sind verpönt. Schnurrbärte gelten als Zeichen für Eitelkeit.
Kauzige Entrücktheit
Von klein auf hat Ada Fisher mit diesen strengen Regeln gelebt, hat - wie alle Kinder - zwischen acht und 13 Jahren die Einraumschule, in der alle Jahrgangsstufen gleichzeitig von einem unverheirateten Amish-Mädchen mit gutem Leumund im Lesen, Schreiben und ein bisschen Rechnen unterrichtet werden, besucht. Mehr Bildung ist nicht vorgesehen. Die Bibel ist die Richtschnur. Und auf den Farmen und in den Haushalten mit acht, zehn oder zwölf Kindern wird ohnehin jede Hand gebraucht.
Ada sind die Regeln im Parallel-Universum der Amish zu streng geworden. Vor 30 Jahren ist die heute 83-Jährige, gemeinsam mit ihrem Mann, ebenfalls einem Amish, zu den Mennoniten gewechselt. Die sind zwar vom gleichen Stamm und gleichfalls sehr fromm, aber doch ein gehöriges Stück weit aufgeschlossener für die Neuerungen dieser Welt.
Die alte Dame, die mit liebevollem Spott über die kauzig anmutende Weltentrücktheit der Amish herzieht, bringt Touristengruppen die Kultur der Amish-Gemeinschaft näher. Seit Harrison Ford im Film „Der einzige Zeuge” in den Kosmos der Amish eintauchte, ist in den USA das Interesse an diesem seltsamen Stamm gewachsen. Reisebusse voller „Engländer” fallen wie die Heuschrecken in den Lancaster-Landkreis ein, wo 26 000 Amish unter 300 000 „Engländern” in der Nähe von Ortschaften leben, deren Namen an die frühere Heimat erinnern: Manheim, Strasburg oder New Holland. Die Amish fürchten um ihre Weltabgewandtheit. Längst ist das Farmland knapp und zu teuer geworden, um neue Amish-Höfe zu gründen. Nur die wenigsten ziehen weg, in andere Amish-Gemeinschaften nach Ohio oder Indiana.
Altertümliches Deutsch
Stattdessen verdingen sich Väter, deren vornehmste Aufgabe einst darin bestand, Handwerk und Tradition an die Söhne weiter zu geben, als Zimmerleute und Maurer auf den Baustellen der „Engländer”. Andere öffnen ihre Farmen für Touristen. Mit scheuem Lächeln geben die Frauen und Töchter der Amish, die untereinander noch ein altertümliches, alemannisches Deutsch, das „Pennsylvania Dutch”, sprechen, das Wechselgeld heraus, während sich die Kinder verstecken.
Eisern halten die Familien an manchen Traditionen fest. Die Felder werden wie eh und je mit dem Pferdepflug bestellt. Diesel-Traktoren dürfen allenfalls im stationären Betrieb laufen und Strom für den Lift liefern, der die Strohballen in die Scheune hievt. Mit Druckluft werden die Waschmaschinen angetrieben. Elektrischen Strom von einem der greifbar nahen Masten mit den Überlandleitungen zu beziehen, bleibt verboten. Zu bequem soll das Leben nicht werden. Abends wird die Gaslaterne in den Stuben angezündet. Fernsehen ist auch verboten.
Sich im Auto mitnehmen zu lassen, wird übrigens toleriert. Vielen „Engländern” hat dies ein zweites Standbein als Taxifahrer für die „amischen Leit” verschafft. Hätten Rudy und Tobias ein paar Dollar übrig gehabt, wären sie vielleicht nicht auf die Idee gekommen, selbst zu fahren und hätten ein „Engländer-Taxi” gerufen. Fahrpraxis hatten beide ja nicht - woher auch?