Essen. Auch im Ruhrgebiet geht die Bevölkerung deutlich zurück. Vor allem die starke Mittelschicht kehrt den Städten und Gemeinden den Rücken, während die sozial schwachen bleiben. "Sie sind die Zukunft des Reviers", sagen Forscher. Weshalb sie eine besondere Unterstützung brauchen.
Ob ein Kind mit vier Jahren ordentlich sprechen gelernt hat, ob es ansonsten gesund ist und gut entwickelt – oder eben nicht: „Das verrät die Adresse”, sagt Peter Strohmeier, Bochumer Professor und Ruhrgebietsforscher. Seit Jahren durchkämmt er mit seinen Untersuchungen die Städte und Gemeinden, er kennt die Lebenssituationen in einzelnen Straßenzügen und Wohnblocks. Strohmeier weiß, wo es kaum ein Entkommenen gibt aus dem Teufelskreis der Armut, Vernachlässigung, mangelhafter Gesundheitsversorgung und katastrophalen Bildungsperspektiven. Wer eben kann, zieht weg aus solchen Vierteln. Wer bleibt, das sind die älteren, ärmeren, kränkeren Menschen. „Sie sind das Humanvermögen der Ruhrgebiets”, sagt Reiner Klingholz, der Kopf des Berlin-Instituts, das sich mit der demografischen Entwicklung in Deutschland beschäftigt.
"Ungleiches ungleich behandeln"
Strukturschwach – so muss man wohl weite Teile des Ruhrgebietes nennen. Zum Beispiel Herne und Gelsenkirchen, zum Beispiel die nördlichen Viertel der Städte Essen, Bochum und Dortmund. Dass die Bevölkerung im Ruhrgebiet abnimmt – der Demografiexperte Klingholz nimmt es mit Gelassenheit. „Das Ruhrgebiet wird sich gesundschrumpfen”, sagt er voraus. Im Gegensatz zu den strukturschwachen ländlichen Gebieten in Ostdeutschland, denen kaum noch zu helfen sei: „Sie werden sich totschrumpfen”.
Für die Zukunft komme es darauf an, gerade die vielen sozial schwachen Menschen, vor allem die jungen, zu fördern. „Auf ihnen lastet eine große Verantwortung”, sagt Strohmeier. Schließlich hänge es von ihnen ab, welche Zukunft das Ruhrgebiet habe. „Wir müssen Ungleiches ungleich behandeln”. Das sei der einzige Ausweg für die Bezirke, wo viele Benachteiligte wohnen.
"Es kommt auf die Ideen an"
Doch wie soll das funktionieren, wenn die meisten Ruhrgebietskommunen unter Nothaushalt stehen? „Es kommt nicht nur auf das Geld an”, sagt Strohmeier. Sondern auf die verantwortlichen Leute und deren Ideen. Er lobt Mülheim und Gelsenkirchen, beschreibt „tolle Projekte” in Kindergärten und Schulen, die zeigten, dass es möglich sei, aus dem Teufelskreis Armut und Benachteiligung herauszukommen. „Es bewegt sich tatsächlich etwas”, ist der Professor überzeugt. Nun müssten die wirksamen Projekte auch flächendeckend umgesetzt werden. Mit ins Boot müssten die Wohnungsbaugesellschaften, die Arbeitgeber, die Behörden – und natürlich die Menschen selbst.
Womit Strohmeier zur Familienpolitik übergeht. Elterngeld und im Prinzip die viel beschworene Vereinbarkeit von Familie und Beruf helfe den von Armut und Benachteiligung betroffenen Familien nicht weiter. Den allein Erziehenden Müttern, die oft weder Ausbildung noch Schulabschluss hätten, fehle schlicht die Möglichkeit, überhaupt einen Job zu ergattern, den sie mit ihrer Erziehungsaufgabe vereinbaren müssten. Reiner Klingholz pflichtet ihm bei: „Ursula von der Leyens Familienpolitik unterstützt die Mittelschicht, vor allem die Akademikerinnen”, sagt er. Dort sei sie durchaus erfolgreich.
Familienhilfe für die Armen müsse vor Ort stattfinden, in den Kommunen. Für den Bund bleibe die Aufgabe, die Kommunen dabei zu unterstützen.